Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
Listenreich nicht. Und Ve ritas genauso wenig. Mir scheint, wenn zwei, die sie schuf, noch at men, müsste es andere geben. Doch wo sind sie?«
Ich zuckte die Schultern. »Verschwunden. Alt geworden. Gestorben. Ich weiß es nicht.« Trotz meiner Ungeduld bemühte ich mich, über die Frage nachzudenken. »König Listenreichs Schwester, Frohsinn, gleichzeitig die Mutter Augusts. Sie war vielleicht eine Kundige, aber sie ist schon lange tot. Listenreichs Vater König Wohlgesinnt, war, so glaube ich, der Letzte, der einen eigenen Zirkel hatte. Doch aus der Ge neration wird schwerlich noch einer unter den Lebenden weilen.« Ich biss mir auf die Zun ge. Veritas hatte mir ein mal erzählt, Solizitas habe alle in der Gabe unterwiesen, die ihr vielversprechend erschienen. Von ihnen mussten tatsächlich noch welche zu finden sein. Sie waren höchstens zehn Jahre älter als Veritas.
»Von ihnen sind zu viele tot, wenn du mich fragst. Ich weiß es«, mischte sich der Narr in meinen Gedankengang ein. Ich sah ihn verdutzt an. Er streckte mir die Zunge heraus, vollführte ein paar Tanzschritte und begann erneut eine einseitige Unterhaltung mit dem Rattenkopf auf seinem Zepter. »Du siehst, Rätzelein, es ist, wie ich dir gesagt habe. Keiner von ihnen hat einen blassen Schimmer. Keiner von ihnen ist klug genug, um nachzufragen.«
»Narr, kannst du niemals so sprechen, dass man klug daraus werden könnte?«, rief ich verzweifelt.
Mitten in einer Pirouette senkte er seine Fersen auf den Boden
und stand still, so wie aus Stein gehauen. »Würde es helfen?«, fragte er nüchtern. »Würdest du mir zuhören, wenn ich zu dir käme und nicht in Rätseln spräche? Würdest du auf merken und nachdenken und dir jedes Wort merken und sie später in deinem Herzen bewegen? Nun gut. Ich werde es versuchen. Kennst du das Kinderlied ›Sechs weise Männer gingen nach Jhaampe einst‹?«
Ich nickte, nicht weniger verwirrt als vorher.
»Sag’s mir auf.«
»Sechs weise Männer gingen nach Jhaampe einst / stiegen auf einen Berg, auf einen Berg. / Stiegen hinauf, doch hinunter nimmer / wurden zu Stein und flogen davon, flogen davon …« Plötzlich wusste ich nicht mehr weiter. »Den Rest habe ich vergessen. Es ist nur eins von diesen Kinderliedern, die einem im Gedächtnis bleiben, aber sonst nichts zu bedeuten haben.«
»Zweifellos und ge nau aus diesem Grund ist es auch bei den Wissenssprüchen aufgeführt«, stimmte der Narr mir übertrieben beflissen zu.
»Davon weiß ich nichts.« Ich war so aufgebracht, dass ich aus der Haut fahren mochte. »Du fängst schon wieder damit an. Nie kannst du verständlich reden, auch wenn du es vorgibst zu tun. Die Bedeutung deiner Worte entzieht sich mir.«
»Rätsel, mein lieber Firlefitz, sollen die Menschen zum Nachdenken anregen. Neue Wahrheiten in alten Weisheiten finden. Doch sei es, wie es wolle... Dein Verstand entzieht sich mir, wie soll ich ihn denn hervorlocken? Vielleicht, indem ich mich nachts unter dein Fenster stelle und singe:
Bastardprinzlein, Fitz, mein Herz,
Was bringst du mir Ärmstem großen Schmerz;
Gehst nicht vom Fleck, kommst nicht von hinnen,
Statt frisch und froh das Werk zu beginnen.«
Er war auf ein Knie gefallen und zupfte an seinem Zepter an nicht vorhandenen Saiten, während er hingebungsvoll sein Liedchen vortrug. Die Melodie gehörte zu einer bekannten Liebesballade. Er blickte zu mir auf, seufzte schmachtend, befeuchtete sich die Lippen und fuhr klagend fort:
»Weshalb ist ein Weitseher für die Weite blind,
Weshalb sieht er die Dinge nur, wie sie sind?
O Bastardprinzlein, Fitz, mein Schatz,
Ich mahne und warne, doch für die Katz’:
Von Feinden bedrängt, das Volk in Not,
Während du zauderst, schlägt man uns tot!«
Eine Dienstmagd, die vorbeikam, blieb stehen und hörte zu. Eine Tür ging auf, ein Page steckte den Kopf hinaus, sah zu uns her und grinste. Meine Ohren brannten vor Verlegenheit, denn der Narr gebärdete sich wie ein liebeskranker Troubadour unter dem Balkon seiner Angebeteten.
Ich versuchte weiterzugehen, als hätte ich nichts mit allem zu tun, doch der Narr rutschte auf den Knien hinter mir her und hielt mich am Ärmel fest. Wenn ich mich nicht erst recht lächerlich machen wollte, indem ich mich aufführte wie Jungfer Rührmichnichtan, musste ich stehenbleiben und das Unvermeidliche mit Fassung ertragen. Der Narr verdrehte die Augen, der Page kicherte, und weiter hinten im Gang kommentierten zwei Stimmen gut gelaunt meine Zwangslage.
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