Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
diese Zeit geht hervor, dass sie durch sanf te Beeinflussung und viel Einfühlungsvermögen erreichte, dass ihre Schüler sich ihr öfneten. Sowohl Veritas als auch Chivalric gingen aus ihrer Erziehung als starke und fähige Nutzer der Gabe hervor. Unglücklicherweise
starb sie, bevor das letzte Stadium der Ausbildung beendet war und bevor Galen den Wanderstatus als Gabenlehrer erreichte. Man muss sich fragen, wie viel Wissen mit ihr ins Grab gesunken ist und welche Möglichkeiten dieser königlichen Magie für immer dem Vergessen anheimgefallen sind.
Ich hielt mich an jenem Morgen nur kurz in meinem Schlafgemach auf. Das Feuer war erloschen, aber die Kälte, die ich empfand, war nicht allein die eines ungewärmten Zimmers. Dieser Raum war die leere Hülle eines Lebens, das ich bald hinter mir zu lassen dachte. Beides, das Zim mer wie das Leben, erschienen mir öder als je zuvor. Ich wusch mich fröstelnd mit dem kalten Wasser aus dem Krug und nahm mir endlich die Zeit, die Verbände an Hals und Arm zu erneuern. Es war nicht mein Verdienst, dass die Wunden so sauber aussahen. Sie heilten gut.
Ich kleidete mich warm an: ein wattiertes Hemd, Mitbringsel aus den Bergen, unter einem dicken Lederwams, dazu eine ebenfalls lederne Überhose, die mit Riemen eng an die Beine geschnürt war. An Waffen nahm ich mein altes Schwert mit sowie einen kurzen Dolch. Zusätzlich steckte ich aus meinen Giftvorräten einen kleinen Topf ein, der ein Pulver aus grünem Knollenblätterpilz enthielt. Trotz allem hatte ich ein dum mes Ge fühl, als ich mein Gemach verließ.
Veritas’ Befehl vom Abend zuvor folgend, begab ich mich geradewegs zu seinem Turm. Ich vermutete, er wollte mit mir an der Gabe arbeiten, doch irgendwie musste ich ihn überzeugen, dass es heute wichtiger war, Jagd auf Entfremdete zu machen. Ich rannte fast die Trep pe hinauf und wünschte mir, dieser Tag wäre bald vorüber. Mein ganzes Leben war einzig auf den Moment ausgerichtet, in dem ich König Listenreich zu Füßen fallen und ihn bitten konnte, Molly heiraten zu dürfen. Allein der Gedanke an sie erfüllte
mich mit ei ner derart verwirrenden Mischung bisher unbekannter Ge fühle, dass mein Schritt immer langsamer wurde, während ich versuchte, sie alle im Ein zelnen zu ergründen. Doch das erschien mir bald als sinnlos. »Molly«, sagte ich leise vor mich hin. Wie ein magisches Wort be stärkte es mich in mei nem Entschluss und spornte mich an. Oben angekommen, klopfte ich diesmal laut an die Tür.
Veritas’ Aufforderung hereinzukommen, fühlte ich mehr, als dass ich sie hörte. Ich trat ein.
Was ich vor mir sah, war fast wie ein kleines Stillleben auf einem Gemälde. Veritas saß vor dem offenen Fenster auf seinem alten Armlehnstuhl. Seine Hände lagen müßig auf dem Sims, sein Blick war unverwandt auf den fernen Horizont gerichtet. Seine Wangen waren vom Morgenfrost gerötet, während der Wind in seinem schwarzen Haar wühlte. Bis auf die leichte Brise vom Fenster her war es im Zimmer ruhig und still, doch mir kam es so vor, als würde ich von ei nem Wirbelsturm erfasst. Veritas’ Bewusstsein umbrandete mich, sog mich ein, und zusammen mit seinen Gedanken und seiner Gabe wurde ich weit aufs Meer hi nausgetragen. Er nahm mich mit auf sei ner schwindelerregenden Reise zu jedem Schiff innerhalb seines geistigen Bewusstseinshorizonts. Einmal streiften wir die Gedanken eines Kapitäns auf einem Handelsschiff: ›… wenn der Preis stimmt, Öl als Rückfracht laden …‹ und ein anderes Mal waren wir schon bei einer Netzflickerin, die die Ahle fliegen ließ und leise murrte, als der Maat sie anfuhr, sie solle ihre Arbeit nicht vernachlässigen. Wir fanden einen Steuermann vor, der sorgenvoll an sein schwangeres Weib zu Hause dachte, und drei Familien, die in der grauen Morgendämmerung weit draußen Muscheln ernteten, bevor die Flut die Muschelbänke wieder überschwemmte. Diese und noch ein Dutzend andere Menschen besuchten wir, bis Veritas uns plötzlich in unsere eigenen Körper
zurückversetzte. Ich fühlte mich so wirr im Kopf wie ein kleiner Junge, der von seinem Vater hochgehoben wurde, um das gesamte Chaos des Jahrmarkts zu überblicken, bevor er sich auf seinen eigenen Füßen wiederfindet und auf seinem kindlichen Gesichtshorizont von Knien und Beinen.
Ich trat zum Fenster und stellte mich neben Veritas. Er starrte noch immer über das Meer zum Horizont. Plötzlich erschloss sich mir der Sinn sei ner Karten und weshalb er sie zeich nete. Das
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