Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
betrachtete. Dann hob er den Blick und stieß ei nen gellenden Schrei aus. Dann ließ er den Stapel Holz fallen, den er auf den Armen hergetragen hatte. Sowohl der Narr als auch ich wandten den Kopf und folgten seinem Blick.
In der Tür zum Schlafgemach des Königs stand der Narbenmann. Obwohl ich wusste, dass es Chade war, sträubten sich mir unwillkürlich die Haare. Er war in zerlumpte Lei chentücher gehüllt, das lange graue Haar hing ihm in verfilzten Strähnen ins Gesicht, und er hatte sich die Haut mit Asche ein gerieben, damit die roten Narben deutlicher hervortraten. Bedrohlich langsam hob er die Hand und deutete auf Wallace. Der Mann sperrte den Mund auf, brachte aber kei nen Ton heraus. Dann drehte er sich um und stürzte in blindem Entsetzen den Flur hinunter. Sein gellendes Geschrei nach den Wachen hallte durch die ganze Burg.
»Was geht hier vor?«, verlangte Chade zu wissen, sobald Wallace die Flucht ergriffen hatte. Er war mit einem Schritt bei seinem Bruder und fühlte mit den langen dünnen Fingern nach dem Puls an seinem Hals. Ich wusste, es war vergeblich. Mühsam raffte ich mich auf.
»Er ist tot. ICH HABE IHN NICHT GETÖTET!« Meine Stimme übertönte das Wehklagen des Narren. Die Gabenfinger
hörten nicht auf, an mir zu zupfen. »Ich gehe und werde ihn an seinen Mördern rächen. Bring den Narren in Si cherheit. Hast du die Königin?«
Chade schwieg. Er starrte mich an, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Sämtliche Kerzen im Raum brann ten plötzlich mit knisternd blauer Flamme. Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können. »Bringt sie in Sicherheit«, befahl ich meinem Mentor, »und der Narr soll mit ihr ge hen. Wenn er bleibt, ist er tot. Edel wird niemanden am Leben lassen, der heute Nacht in diesem Raum gewesen ist.«
»Nein! Ich verlasse ihn nicht!« Die Au gen des Narren waren groß und leer wie die eines Wahnsinnigen.
»Nimm ihn mit, ob er will oder nicht, Chade. Sein Leben hängt davon ab!« Ich packte den Narren bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. Sein Kopf wankte auf dem dünnen Hals hin und her. »Geh mit Chade und sei still! Sei still, wenn du willst, dass der Tod deines Königs gerächt wird. Denn das werde ich jetzt tun.« Plötzlich überkam mich ein heftiges Zittern, und die Welt begann sich um mich herum zu drehen und sich zu verdunkeln. »Elfenrinde!«, ächzte ich. »Elfenrinde brauche ich von dir. Dann flieht!« Ich stieß den Narren zu Chade hin, und der alte Mann umschlang ihn mit seinen knochigen Armen. Es sah aus, als würde der Tod die schmächtige Gestalt an seine Brust drücken. Sie verließen das Zimmer, Chade schob den wei nenden Narren vor sich her. Einen Augenblick später hörte ich ein leises Knirschen von Stein auf Stein. Sie waren fort.
Ich sank auf die Knie, dann vornüber, bis ich am Schoß meines toten Königs Halt fand. Seine schlaffe Hand fiel von der Armlehne auf meinen Kopf.
»Eine dumme Zeit für Tränen«, sagte ich laut in das leere Zimmer hinein, aber das hielt die Tränen nicht zurück. Am Rande meines
Gesichtsfeldes nahm ich im mer noch wahr, wie ein schwarzer Strudel mich zu erfassen versuchte. Die gespenstischen Gabenfinger wanderten an meiner Festung entlang über meine Mauern, kratzten am Mörtel, prüften jeden Stein. Ich stieß sie weg, aber sofort scharrten sie an einer anderen Stelle. So, wie Chade mich angesehen hatte, zweifelte ich plötz lich daran, dass er zu rückkommen würde. Ich hoffte darauf. Und ich holte tief Atem.
Nachtauge. Führe sie zum Fuchsbau. Ich zeigte ihm den Schuppen, aus dem sie herauskommen würden und den Platz, an dem Burrich wartete. Zu mehr fehlte mir die Kraft.
Mein Bruder?
Führe sie, mein Herz! Er zögerte, dann spürte ich, wie er sich entfernte. Immer noch liefen die albernen Tränen über mein Gesicht. Ich suchte nach ei nem Halt und streckte die Hand aus, wobei ich den Gürtel meines Königs berührte. Durch den Schleier vor meinen Augen sah ich sein Messer, es war kein juwelenbesetzter Dolch, sondern ein ein faches Messer, das jeder Mann für die einfachen alltäglichen Verrichtungen am Gürtel trug. Ich umfasste den Griff, zog es aus der Scheide, setzte mich auf den Boden und betrachtete es. Eine ehrliche Klinge, dünngewetzt von den langen Jahren des Gebrauchs. Das Heft aus einer Geweihstange, die ursprünglich wohl mit Schnitzereien versehen, doch jetzt abgenutzt und glatt war. Ich strich mit den Fingerspitzen darüber, und sie fanden, was mei ne Augen nicht mehr
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