Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
nicht daran denken.«
Chades Gesicht verdüsterte sich, als er mich sorgenvoll anblickte. Ich wandte den Blick ab, weil mir sein Mitleid unerträglich war. Die Erinnerung an die Schläge, die ich erduldet hatte, war leichter zu ertragen, wenn ich mir vormachen konnte, dass sonst niemand davon wusste. Ich schämte mich für das, was Edel mir angetan hatte. Ich lehnte den Kopf gegen das sonnenwarme Holz der Hüttenwand und atmete tief ein. »Nun gut. Was geht vor da unten, wo das Leben weitergeht?«
Chade räusperte sich und ging auf meinen Versuch ein, das Thema zu wechseln. »Hm. Was weißt du alles?«
»Nicht viel. Dass Kettricken und der Narr entkommen sind. Dass Philia möglicherweise erfahren hat, wie Kettricken im Bergreich in Sicherheit gebracht wurde. Dass Edel sich von König Eyod vor den Kopf gestoßen fühlt und die Handelsbeziehungen zu den Chyurda abgebrochen hat. Dass Veritas noch lebt, aber niemand Nachricht von ihm hat.«
»Langsam, langsam!« Chade setzte sich kerzengerade hin. »Die Sache mit Kettricken - das hast du in der Nacht gehört, als Burrich und ich darüber sprachen.«
Ich schaute den Pfad entlang, der sich den grasbewachsenen Hang hinunterschlängelte. »Es ist wie die Erinnerung an einen alten Traum. Düster wie der Meeresgrund und alles verworren. Mir ist nur im Gedächtnis geblieben, dass davon die Rede war.«
»Und das mit Veritas?« Die plötzliche Gespanntheit, die von ihm ausging, bewirkte, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief.
»Er hat in jener Nacht zu mir gedacht«, antwortete ich so gelassen wie möglich. »Ich habe euch doch gesagt, dass er noch lebt.«
»VERFLUCHT!« Chade schnellte hoch und sprang vor Ärger auf und ab. Etwas Derartiges hatte ich ihn noch nie tun sehen, und ich starrte ihn an, hin- und hergerissen zwischen Verwunderung und Furcht. »Burrich und ich haben deinen Worten keinen Glauben geschenkt! Oh, natürlich waren wir erfreut, als wir dich von Veritas sprechen hörten, und als du hinausgestürmt bist, sagte Burrich ›Lass den Jungen gehen, zu mehr ist er heute Abend nicht fähig, er erinnert sich an seinen Prinzen‹. Mehr haben wir nicht darauf gegeben. Verflucht noch eins!« Plötzlich stand er stockstill und stieß mir den ausgestreckten Finger entgegen. »Berichte. Erzähl mir alles ganz genau.«
Ich suchte zusammen, was mein Gedächtnis hergab; es war so schwierig zu deuten, als hätte ich es durch die Augen des Wolfs gesehen. »Er fror. Er war aber am Leben. Entweder müde oder verletzt. Seltsam schwerfällig. Er bemühte sich, in mein Bewusstsein zu gelangen, aber ich wollte ihn nicht lassen, deshalb redete er mir ein zu trinken. Um meine Abwehr zu schwächen, nehme ich an...«
»Wo war er?«
»Ich weiß nicht. Da war Schnee. Ein Wald.« Ich bemühte mich, verschwommene Bilder zu erkennen. »Ich glaube, dass er selber nicht wusste, wo er war.«
Chades Blick aus seinen grünen Augen durchbohrte mich fast. »Kannst du ihn erreichen, ihn spüren? Kannst du mir sagen, ob er immer noch lebt?«
Ich schüttelte den Kopf. Mein Herz begann wie ein Hammer zu schlagen.
»Kannst du jetzt zu ihm denken?«
Ich konnte wieder nur den Kopf schütteln. Mir war, als näherte sich eine kalte Hand meinem Nacken.
Chades Erregung steigerte sich mit jeder Verneinung. »Verdammt, Fitz, du musst es versuchen!«
»Ich will nicht!« Der Aufschrei brach aus mir heraus. Ich sprang auf.
Lauf weg! Lauf schnell weg!
Und ich lief. Auf einmal war es ganz leicht. Ich ergriff die Flucht vor Chade und dem Ort meiner Verbannung, als wären sämtliche Teufel von den Hölleninseln der Outislander hinter mir her. Chade rief mir nach, aber ich verschloss meine Ohren. Ich lief, und sobald ich in den Schutz der Bäume eintauchte, war Nachtauge neben mir.
Nicht diesen Weg. Rudelherz ist dort, warnte er mich. Also ließen wir den Bach hinter uns und wandten uns hangaufwärts, wo ein dichtes Brombeergestrüpp über eine Böschung wucherte, unter der Nachtauge in stürmischen Nächten Zuflucht suchte. Was war denn? Welche Gefahr?, fragte er.
Ich überlegte. Er wollte, dass ich wieder bin wie früher . Ich bemühte mich, es so zu formulieren, dass Nachtauge mich verstehen konnte. Er wollte - dass ich nicht länger ein Wolf bin.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Plötzlich sah ich mich der Wahrheit Auge in Auge gegenüber. Ich hatte die Wahl. Ein Wolf zu sein, ohne ein Gestern, ohne ein Morgen, nur im Heute und Jetzt. Oder ein Mensch zu sein, der von seiner
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