Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
den Thron der Sechs Provinzen.
Die Zeiten waren schwer für die einfachen Leute an der Küste. Im Stich gelassen von ihrem König und verteidigt nur von einer kleinen Truppe schlecht entlohnter Soldaten, waren sie steuerlos den Schicksalsstürmen ausgeliefert. Was die Korsaren nicht raubten, forderten Lord Vigilants Männer als Steuern ein. Auf den Straßen trieben Räuber ihr Unwesen, denn wer keine Möglichkeit hat, sich auf ehrliche Art durchzubringen, greift zu anderen Mitteln. Kleinbauern verloren die Hoffnung, auf dem eigenen Land je wieder einen Lebensunterhalt erwirtschaften zu können. Sie zogen zumeist fort, um in den Städten der Inlandprovinzen die Schar der Bettler, Diebe und Huren zu vergrößern. Der Handel kam zum Erliegen, denn von ausfahrenden Schiffen kehrte nur selten eines zurück.
Chade und ich saßen auf der Bank vor der Hütte und redeten miteinander. Wir sprachen über nichts Bedeutungsvolles, weder über die dramatischen Ereignisse der Vergangenheit wie meine Rückkehr aus dem Grab noch über die derzeitige politische Situation. Stattdessen berichtete Chade vom häuslichen Alltag, als wäre ich nur von einer langen Reise zurückgekehrt. Schleicher, das Wiesel, machte ihm Sorgen; im letzten Winter war er steif und schwerfällig geworden, und auch der Frühling hatte ihm seine sonstige Lebhaftigkeit nicht wiedergebracht. Man musste fürchten, dass er dieses Jahr nicht überleben würde. Chade war es endlich gelungen, Wimpelstaudenblätter zu trocknen, ohne dass sie schimmelten, aber neben der Frische verloren sie damit auch den größten Teil ihrer Wirkung. Wir beide vermissten Köchin Saras Pasteten. Chade fragte, ob er mir irgendetwas aus meinem Zimmer mitbringen sollte. Edel hatte es durchsuchen lassen, und dementsprechend sah es aus, doch wie mein alter Lehrer glaubte, war kaum etwas von meinen Habseligkeiten entfernt worden, und niemand würde bemerken, wenn etwas fehlte. Ich fragte ihn, ob er sich an den Gobelin von König Weise und den Uralten erinnerte. Ja, antwortete er, aber das gute Stück wäre ihm zu schwer für den Weg hier herauf. Doch angesichts meiner betrübten Miene gab er sofort nach und meinte, bestimmt ließe sich eine Möglichkeit finden.
Ich grinste. »Das war ein Scherz, Chade. Das Ding war nie zu etwas anderem gut, als einem kleinen Jungen Alpträume zu bescheren. Nein. In meinem Zimmer gibt es nichts, das mir noch wichtig wäre.«
Chade sah mich fast traurig an. »Du gehst aus einem Leben mit nichts anderem als den Kleidern, die du am Leib trägst, und einem Ohrring? Und du sagst, da ist nichts, worauf du außerdem Wert legst? Kommt dir das nicht sonderbar vor?«
Ich dachte eine Weile nach. Da war das Schwert, das mir Veritas ›für besondere Verdienste‹ verliehen hatte. Der Silberring von König Eyod, der Rurisk gehört hatte. Eine Agraffe von Lady Grazia. Auch Philias Meerpfeifen waren in meinem Zimmer gewesen - ich hoffte, sie hatte sie wiederbekommen. Meine Schreibutensilien. Eine kleine Schatulle mit meinen Giftmischungen. Zwischen Molly und mir waren nie irgendwelche Pfänder ausgetauscht worden. Sie wollte nie Geschenke von mir annehmen, und ich hatte nie daran gedacht, ein Band aus ihrem Haar zu stehlen. Hätte ich es getan...
»Nein. Ein klarer Bruch ist wahrscheinlich das Beste. Obwohl du etwas vergessen hast.« Ich drehte den Kragen meines groben Hemdes um und zeigte ihm den kleinen, in Silber gefassten Rubin. »Die Nadel, die Listenreich mir gab, als Abzeichen für seinen Vasallen. Die habe ich noch.« Philia hatte sie benutzt, um das Leichentuch festzustecken, in das sie mich eingehüllt hatte. Doch diesen Gedanken schob ich beiseite.
»Mich wundert immer noch, dass Edels Schergen deinen Leichnam nicht gefleddert haben. Ich nehme an, die Alte Macht umgibt eine solche Aura des Bösen, dass sie dich tot nicht weniger fürchteten als lebendig.«
Ich befühlte meine Nase dort, wo sie gebrochen worden war. »Für mich sah es nicht so aus, als ob sie große Angst vor mir hätten.«
Chade verzog den Mund zu einem hinterhältigen Lächeln. »Das mit der Nase stört dich, nicht wahr? Ich finde, sie verleiht deinem Gesicht Charakter.«
Ich musste in die Sonne blinzeln, um ihn anzusehen. »Ehrlich?«
»Nein. Aber als höflicher Mensch sagt man das. Wirklich, so übel ist es nicht. Es sieht sogar fast so aus, als hätte jemand versucht, sie zu richten.«
Ich schauderte, als mir die Erinnerung daran einen leichten Stich versetzte. »Ich möchte
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