Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
Gefühlen anderer zu schützen, so feste Mauern um mein Bewusstsein errichtete, dass nicht einmal er sie zu durchbrechen vermochte. Daraus glaubte er folgern zu können, ich sei wirklich stark in der Gabe, stärker noch als er, aber dermaßen sensitiv, dass ich in Situationen übersteigerter Gefühlsüberwallung gezwungen war, mich abzuschirmen, um nicht von einer Sturmflut mitgerissen zu werden. Eine interessante Theorie, allerdings ohne jeden praktischen Nutzen. Dennoch, in den Tagen, an denen ich Veritas mit mir herumtrug, entwickelte ich ein Gefühl für ihn wie für keinen anderen Mann außer vielleicht Burrich. So wusste ich zum Beispiel erschreckend genau, wie der Gabenhunger an ihm nagte.
Als Kinder waren Kerry und ich ein mal auf einen steilen Küstenfelsen hinaufgeklettert. Als wir oben an kamen und über die Kante spähten, gestand er mir ein fast übermächtiges Verlangen, sich in die Tiefe zu stürzen. Ich denke, das ist ein treffender Vergleich zu Veritas’ Empfindungen. Die Lust der Gabe zog ihn in ihren Bann und lockte ihn, sich ihr ganz und gar zu ergeben. Seine enge Verbindung mit mir gab diesem Verlangen noch zusätzliche Nahrung. Und doch war der Nutzen seiner Gabenkunst für die Sechs Provinzen zu groß, als dass er sie hätte aufgeben können, selbst wenn ihn die Gabe auf Dauer aushöhlte. Gezwungenermaßen teilte ich viele der Stunden an dem einsamen Turmfenster mit ihm, den harten Stuhl, auf dem er saß, die Mattigkeit, die ihm den Appetit raubte, sogar die müden Knochen vom langen Stillsitzen bekam ich mit zu spüren. Ich erlebte mit, im wahrsten Sinne des Wortes, wie er nach und nach aufgezehrt wurde.
Ich weiß nicht, ob es gut ist, jemanden so genau zu kennen. Nachtauge war darauf eifersüchtig und hielt damit auch nicht hinter dem Berg. Wenigstens war es bei ihm ein unverhohlener Ärger, weil ich ihn aus seiner Sicht vernachlässigte. Mit Molly war es schwieriger. Weshalb musste ich ausgerechnet auf einem der Kriegsschiffe Dienst tun? Der einzige Grund, den ich ihr nennen konnte, nämlich dass Veritas es wünschte, stellte sie nicht zufrieden. Unsere seltenen Treffen verliefen bald nach einem vorhersehbaren Muster. Wir kamen in einem Sturm der Leidenschaft zusammen, fanden für kurze Zeit Frieden ineinander und fingen dann an, über dieses und jenes zu streiten. Sie war einsam und hasste ihre Arbeit. Das bisschen Geld, das sie sparen konnte, vermehrte sich entsetzlich langsam. Und ich fehlte ihr. Warum musste ich so oft weg sein, wenn doch nur ich ihr das Leben lebenswert machte? Einmal bot ich ihr das Geld an, das ich an Bord des Schiffes verdient hatte, aber sie reagierte sehr kühl und abweisend, so als hätte ich sie eine Hure genannt. Nichts wollte sie von mir annehmen, bevor wir nicht vor aller Welt im Bund der Ehe zusammen waren. Aber wann dieser Tag sein würde, dazu konnte ich ihr keine Hoffnungen machen. Es hatte sich noch kein geeigneter Augenblick gefunden, um ihr von Listenreichs Plänen für Zelerita und mich zu erzählen. Durch die wenige Zeit miteinander hatten wir uns auseinandergelebt, und wenn wir dann einmal zusammen waren, käuten wir stets aufs Neue die alten Konflikte wieder.
Eines Abends, als ich zu ihr kam, hatte sie das Haar mit roten Bändern zurückgeflochten, und zierliche Silberohrringe in der Form von Weidenblättern schwangen gegen ihren bloßen Hals. Sie trug nur ihr weißes Nachtgewand, und ihr Anblick raubte mir den Atem … Später dann, in einem Augenblick der Entspannung, machte ich ihr ein Kompliment über den Schmuck und musste hören, dass Prinz Edel ihn ihr geschenkt hatte, als er das letzte Mal bei ihr vorbeigekommen war, um Kerzen zu erstehen. Ihre wunderbar duftenden Kerzen machten ihm solche Freude, hatte er gesagt, dass er immer glaubte, ihr etwas schuldig zu bleiben, wenn er nur mit Geld für diese kleinen Kunstwerke bezahlte. Sie lächelte stolz, während sie mir das erzählte. Ihre Finger spielten mit meinem Kriegerzopf, während sich ihr eigenes Haar und die roten Bänder in einem wilden Durcheinander auf den Kissen ausgebreitet hatten. Ich weiß nicht, was sie dann plötzlich in meinem Gesicht las, aber ihre Augen wurden groß, und sie rückte von mir ab.
»Du nimmst von Edel Geschenke an?«, fragte ich kalt. »Wenn ich dir Geld anbiete, das ich ehrlich verdient habe, verweigerst du dich, aber du lässt dir Geschenke machen von diesem …«
Ich war nahe da ran, Hochverrat zu begehen, doch fand ich keine Worte, um auszudrücken, was
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