Fix und forty: Roman (German Edition)
die Hauptstädte lernen konnten –, alles in einen weißen VW-Bus gestopft.
Ein typischer Morgen begann damit, dass wir im schwachen Licht der Dämmerung aufstanden, aus dem überfüllten Zelt zu einem weit entfernten Klohäuschen stolperten und lauwarmen Instant-Kakao aus Styroporbechern tranken. Da der Kakao lauwarm war, löste sich das Pulver nicht vollständig auf; es trieb in staubigen Klumpen an der Oberfläche. Dies waren einzelne, hartnäckige Klumpen, nicht zu verwechseln mit den Mini-Marshmallows, die mit ihrer gummiartigen Konsistenz im Sediment am Becherboden klebten.
Hannah und ich zitterten in der klammen Morgenluft, während mein Vater meine Brüder anschrie, die ihm beim Zeltabbau helfen mussten, weil sie Jungs waren. Meine Brüder arbeiteten schweigend, stemmten mit dem zangenförmigen Ende des Hammers die Heringe aus dem Boden, während mein Vater mit den umkippenden Zeltstangen kämpfte. In all meinen Jugendjahren habe ich meine Eltern nicht ein einziges Mal den Namen des Herrn missbrauchen oder ein einziges Mal das böse F-Wort benutzen hören. Doch beim Zelten erschauerte ich bei so heftigen Verwünschungen wie »HERRschaftszeiten!« oder »VerFLIXT NOCH MAL!« Und so nahm ich während des Zeltabbaus meistens Hannah bei der Hand und führte sie ein Stück weiter weg. Die explosive Ungeduld meines Vaters brachte sie zum Weinen.
Da wir nach dem Kakao, aber noch vor dem Frühstück aufbrachen, wartete Mom, bis die Sonne am Himmel stand, und öffnete dann Pandoras Kühltruhe der Gerüche. Im geschlossenen Raum des vollgestopften VW-Busses entwickelten die Gerüche eine stechende Intensität, die für mich unweigerlich zum Vorspiel der Reiseübelkeit gehörte. Zum Frühstück gab es schale Schnetkes , angedrückte Bananen und lauwarme Milch aus mehrfach benutzten Styroporbechern, die Hannah und ich ausgewaschen hatten, während die Jungs das Zelt abbauten. Mom streckte die Milch mit Wasser und fettfreiem Milchpulver. Davon mussten wir würgen, aber jeder von uns hatte einen ganzen Becher zu trinken. Außerdem durften wir die Rosinen nicht aus den Schnetkes pulen, mit der Begründung, Jesus habe nicht viel für wählerische Kinder übrig. Wir sollten gefälligst essen, was es gab. Nur so konnten wir mit einem reinen Gewissen und einem dankbaren Herzen vor den Thron Gottes treten. Wie sehr hätten sich die hungernden Kinder im Chaco über diese Rosinen gefreut!
Ich hatte schreckliche Angst davor, dass Gott mich zur Missionarin im Chaco berufen würde. Der Chaco war ein trockener Streifen Hochland in Südamerika, auf dem profitabler Ackerbau nicht möglich war. Die Mennoniten meiner Jugend hatten, was den Chaco mit seinen vielen nicht-christlichen Völkern anging, in einer Sache begeistert übereingestimmt: Er war reif für Missionsarbeit. Ich weiß immer noch nicht genau, was da unten im Chaco vor sich geht, aber als Kind nahm ich an, dass es mit der Vermehrung von Rüsselkäfern und Maniokwurzeln zu tun hatte. Bei vielen sonntäglichen Diaabenden in der Kirche lernte ich, dass es eine missionarische Organisation namens »Fleischgewordenes Wort« gab, die mennonitische Missionare dazu aufrief, im Chaco Kirchen zu »pflanzen«. Beim Betrachten der Dias kam ich insgeheim zu dem Schluss, dass der Chaco keine Kirchen, sondern eine größere Auswahl an Obst und Gemüse brauchte. Vergesst die Kirchensaat, konzentriert euch auf Wassermelonen. Eine süße saftige Wassermelone lässt jede Maniokwurzel alt aussehen. Davon war ich überzeugt.
Als die Missionarskinder von »Fleischgewordenes Wort« bei uns in der Sonntagsschule auftauchten – auf Heimaturlaub von ihrer lebenswichtigen Kirchenpflanzarbeit im Chaco –, waren sie humorlos, fromm und blass. Die Mädchen trugen ihre Schürzen zur Schule. In ihren Gesprächen nahmen sie ständig Bezug auf Dämonen, was mich kein bisschen überraschte. Wo sonst trieben sich Dämonen herum, wenn nicht im Chaco, wo sie die Maniokernte verdarben?
Wenn eines von uns Kindern also etwas aus der Kühltruhe verschmähte, zückte meine Mutter den Chaco-Trumpf, blitzschnell wie ein Revolverheld im Wilden Westen. Die hungernden Kinder im Chaco würden für einen Styroporbecher mit bläulich wässriger Pulvermilch töten! Ich folgerte, dass Styroporbecher im Chaco selten waren, womit dieser Ort der Verderbnis und Gottlosigkeit wieder ein wenig in meinem Ansehen stieg.
Allerdings konnte selbst der Gedanke an Dämonen, die sich an Maniokwurzeln vergriffen, meine Übelkeit,
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