Fix und forty: Roman (German Edition)
Gymnasium, Mädchen waren schon nach der dritten Klasse fertig. Für sie reichte es, mit Zahlen umgehen und in der Bibel lesen zu können. Mehr Bildung, und sie begannen vielleicht Fragen zu stellen, die ihren Glauben schwächen und sie von Gott entfernen konnten.
Die mennonitische Generation meiner Großeltern war unerschütterlich in ihrem Misstrauen gegen höhere Bildung. Als ich einmal mit einer Gruppe älterer Mennoniten durch die Ukraine reiste, freundete ich mich mit einer Mitreisenden an, einer schmächtigen Witwe mit hängenden Schultern, die sich aus dem stalinistischen Russland gerettet hatte, indem sie sich während der Besatzung einem deutschen Offizier »anschloss«. Auch mit vierundachtzig, nach Jahrzehnten des Wohlstands und einer glücklichen Ehe, weigerte sich Marta immer noch, über die sexuelle Beziehung zu sprechen, die ihr das Leben gerettet hatte. Als ich sie nach ihrem deutschen Wohltäter fragte, sagte sie nur, dass es sich um eine Verbindung gehandelt habe, der sie die Ausreisepapiere für sich und ihre vier Schwestern verdankte.
Marta war winzig – die Kuppe ihres silbrigen Haars reichte mir etwa bis zur Hüfte –, doch sie war beseelt von dem Wunsch, ihre alte Umgebung wiederzusehen, und für mich war es ein Vergnügen, meine Schritte ihrem bedächtigeren Tempo anzupassen. Die meiste Zeit sprachen wir über Marta: ihre Vergangenheit, ihre Verluste, ihr Verständnis der politischen Ereignisse in den Jahren nach der russischen Revolution. Als Mädchen hatte sie mit eigenen Augen den berüchtigten Anarchisten Nestor Machno gesehen. Ich fühlte mich gesegnet, eine Reisegefährtin gefunden zu haben, die sich aus erster Hand an die Ereignisse der Machnowschtschina erinnerte. Auf Reisen entwickeln sich Freundschaften schnell, und bald vertraute mir Marta mehr als nur die Fakten ihrer Lebensgeschichte an. Unsere Nähe verstärkte sich auch dadurch, dass Marta bei unebenen Stufen, offenen Gräben und ähnlichen Hindernissen auf meine Hilfe angewiesen war. Sie war leicht wie ein Blatt, und oft hob ich sie einfach hoch und trug sie über die schwierigen Stellen. Selbst für den robusten Reisenden stellt die ländliche Ukraine mit ihren widerlichen öffentlichen Toiletten eine Herausforderung dar, und erst recht für eine gebrechliche Achtzigjährige, der in den Beinen die Kraft fehlt, um im Stehen zu pinkeln. Kein Wunder, dass wir uns schnell nahe fühlten.
Gegen Ende unserer gemeinsamen Zeit waren Marta und ich an Bord der Gluschkow und segelten gen Jalta und das Asowsche Meer. Sewastopol und die mennonitischen Siedlungen ihrer Jugend hinter uns lassend, standen wir an Deck und betrachteten den Sonnenuntergang über dem Schwarzen Meer. Es musste Marta ganz plötzlich in den Sinn gekommen sein, dass sie nur sehr wenig über die Frau wusste, die in den letzten drei Wochen nicht von ihrem Ellbogen gewichen war. Bis dahin hatte Marta mir kaum Fragen über mein eigenes Leben gestellt. Sie wusste nur, dass ich Mennonitin und Si Janzens Tochter war. Das hatte ihr genügt. »Meine Liebe«, sagte sie jetzt, die kleinen Hände an der Reling, »wie kommt es, dass eine junge Frau wie du mit uns Alten eine Reise in die Vergangenheit macht?«
»Ich wollte mehr über meine Geschichte erfahren«, sagte ich.
»Und wie verbringst du deine Tage, wenn du nicht auf Reisen bist?«, fragte sie. »Was machst du so ohne eigene Familie?«
Ach, die liebe Frau, ich wollte sie nicht enttäuschen! Würde sie gramerfüllt den Kopf schütteln und sagen: Ji jileada, ji vikjeada , wenn sie erfuhr, dass ich Literaturwissenschaftlerin war? Würde sie aufhören, mir ihre Geschichten zu erzählen, und mich als Verweltlichte abstempeln? Ein Doktortitel war für viele Mennoniten ihrer Generation praktisch eine Sünde gegen Gott. Aber sie hatte mich ganz direkt gefragt, und so musste ich ihr meinen höheren Bildungsweg beichten.
Ganz sachlich antwortete ich: »Ich bin Dozentin, Marta. Ich unterrichte an einem College.« Sie wandte das Gesicht wieder dem Asowschen Meer zu, und in der einsetzenden Dämmerung meinte ich sehen zu können, wie Enttäuschung ihre Mundwinkel nach unten zog. Wortlos sah sie aufs Wasser hinaus. Schließlich drehte sie sich wieder zu mir, streckte den Arm nach oben und tätschelte mir die Schulter. »Das ist schon in Ordnung«, versicherte sie mir auf Deutsch. »Du bist trotzdem ein guter Mensch.«
Natürlich teilten meine Eltern Martas Misstrauen gegen höhere Bildung nicht. Sowohl meine Mutter als auch
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