Flachskopf
brannte durch die Fenster.
»Fompe ,« sagte Dries plötzlich, »für den Gürtel gebe ich vierzig Marbel.«
»Gemacht !« sagte Fompe. Er schnallte seinen Gürtel los und gab ihn Dries.
In der vollen Marbelzeit wäre so ‘n StofTgürtel niemals vierzig Marbel wert gewesen, aber da die Marbelspielzeit fast zu Ende war—man konnte schon sechzehn statt acht für einen Cent bekommen—, war man darauf nicht mehr so versessen.
Dries holte vorsichtig seine Marbelbörse aus der Tasche, die er stets bei sich führte, und fing an zu zählen:
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs...« und jedesmal tickte eine kleine Kugel in die offen gehaltenen Hände Fompes.
Flachskopf guckte gleichgültig und schläfrig zu. Er würde nie einen Gürtel gegen vierzig Marbel tauschen. Plötzlich warf er einen Blick auf den Lehrer, der den Kopf auf die Brust hatte sinken lassen, und verschwand unter der Bank...
Es herrschte fast eine Totenstille im brutheißen Schulraum.
»...dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig«, zählte Dries weiter; aber da stieß plötzlich Flachskopfs Fuß so heftig gegen Fompes Hände, daß fünfunddreißig Marbel in die Luft flogen und knatternd über Bänke und Fußboden durch den Raum hüpften. Es war ein Lärm, als würden auf einmal sämtliche Fensterscheiben eingeschlagen; die ganze Klasse sprang auf, die Schläfrigkeit war mit einem Schlage verschwunden, und die Knaben guckten neugierig nach der Richtung, wo die letzten Marbel mit einem leisen Rrrr... hinkollerten und mit einem kurzen Laut gegen die Bänke oder Wände prallten.
Der Lehrer war erschrocken von seinem Stuhl aufgesprungen und blickte einen Augenblick verstört durch den Raum. Die Knaben aus der ersten Klasse starrten so gespannt auf die Zahlen des Getreidehändlers, als stände dabei ihr eigenes Vermögen auf dem Spiel. Die Unbeteiligten wollten dadurch beweisen, daß sie so eifrig an der Lösung der Aufgabe arbeiteten, daß nichts ihre Aufmerksamkeit ablenken könne, und die Schuldigen setzten eine Miene auf, als hätten sie überhaupt nichts gehört. Die Jungen der unteren Klasse standen aufrecht zwischen den Bänken, neugierig, was nun bei den Großen geschehen würde, oder sie saßen unter der Bank und suchten Marbel.
»Wer — hat — das — getan ?« Der Lehrer war ganz blaß vor Wut, und seine Blicke waren scharf wie Dolche.
Die Stille drückte noch schwerer... Die angestrengte Beschäftigung mit den Getreidesäcken des Kaufmanns erreichte ihren Höhepunkt. Fompe bewegte die Lippen und schloß die Augen, als rechne er innerlich das Resultat noch einmal nach, und Flachskopf zählte an den Fingern, gebannt auf seine Schiefertafel blickend, ob die gefundene Lösung auch stimmte.
»Wer — hat — das...«
Plötzlich rollte aus Driesens Tasche ein zurückgebliebener Marbel... Er fiel erst auf das Fußbrett und kollerte dann durch den ganzen Raum... Der Lärm dieses rollenden Marbels in der absoluten Stille schien eineböse Vorbedeutung zu haben, weit schauriger als alles andere, als würde nun etwas Schreckliches geschehen...
Der Lehrer wurde noch blasser, er wartete, bis sich der verräterische Marbel ausgelaufen hatte... Dann stand er mit einem Schritt zwischen den Bänken, seine Zuchtrute sauste auf Driesens Rücken herab, der nun laut aufschrie:
»Flachskopf hat es getan !« Und Fompe, der für sich dieselbe Strafe erwartete, rief gleich mit weinerlicher Miene: »Ja, es war Flachskopf, Herr Lehrer !« Flachskopf wollte sich entrüstet dagegen verwahren, aber der Lehrer sah ihm plötzlich tief in die Augen, und puterrot stammelte er: »Ich konnte nichts dafür... es war nur Spaß, Herr Lehrer !« Der Lehrer faßte ihn mit beiden Händen bei den Schultern, zerrte ihn aus der Bank und trug ihn bis vor die Tür der kleinen Kammer. Mit einem Fußtritt flog die Tür auf, und der Tritt, der nun Flachskopf hineinbeförderte, war die höchste Kraftleistung des Lehrers und bewirkte, daß Flachskopf mit einem dumpfen Schlag an die gegenüberliegende Wand prallte.
Und dort lernte Flachskopf den »Löwen von Flandern« kennen...
Denn nachdem er oft genug über die wunde Stelle gerieben und mit vielen grausamen Racheplänen gegen Dries und Fompe den Schmerz gestillt und seine Wut gekühlt hatte, guckte er sich in dieser Zelle um. Hier war die eigentliche Rumpelkammer der Schule. An der Wand eine zerrissene Landkarte voll Tintenkleckse, auf dem Fußboden ganze Haufen von zerlumpten Schulbüchern und Schulheften früherer
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