Flagge im Sturm
vollkommen egal. Wann legt sie ab?“
„Übermorgen, Käpt’n. Heute endet mein Landgang. Sie ist ordentlich ausgestattet, und Käpt’n Graham wartet nur noch auf seine Papiere.“ Unglücklich blickte Tom zu Jonathan hoch. „Entschuldigung, Sir, doch Käpt’n Graham ist jetzt der Schiffsführer.“
„Was meinst du, wird dein Käpt’n Graham für mich noch einen Liegeplatz haben?“, erkundigte sich Jonathan betont lässig. Dieses war gewiss nicht der klügste aller Pläne -schließlich mochte dieser Graham sein ärgster Feind sein -, doch es war der einzige Weg, wie er zu seiner Familie zurückgelangen konnte, die er ja kaum erinnerte.
Dianna mit den silbrigen Augen und den roten Bändern im Haar war so ganz anders als Demaris. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal etwas dagegen gehabt, dass er ein Pirat war, und ein Freibeuter war für sie wohl so ziemlich dasselbe. Demaris dagegen hätte ihm vorgehalten ... Was Demaris dachte oder sagte, spielte jetzt keine Rolle mehr.
„Ich hätte tatsächlich nicht übel Lust, mich einmal an den Spaniern zu versuchen.“
Tom blieb der Mund offen stehen. „Käpt’n Sparhawk, Sir, soll das heißen, Ihr wollt mit uns mitmachen?“
„Kein ,Käpt’n Sparhawk“ mehr, und kein ,Sir“, Tom“, befahl Jonathan streng. „Wahrscheinlich bin ich ein verdammter Narr, doch ich will lieber unter Freunden als unter Feinden sein, auch wenn es mich den Hals kostet. Dieser Käpt’n Graham braucht jedoch keinen zweiten Kapitän an Bord, und deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du deine Zunge hüten und die anderen bitten würdest, sich ebenso zu verhalten.“ Jonathan überlegte kurz, ob er Tom erzählen sollte, wie wenig er selbst über seine eigene Vergangenheit wusste, doch er ließ es besser. Zwar hatte er sich angewöhnt, Demaris seine Gedanken anzuvertrauen, doch ein Mensch, der so unvernünftig trank wie Tom, war als Mitwisser höchst ungeeignet. Eine Beichte sollte ja angeblich gut für die Seele sein, nach Jonathans Erfahrungen indessen nützte sie dem Körper allerdings herzlich wenig.
Er stemmte seine Schulter unter Toms Arm und hievte den Burschen hoch. „Komm auf die Beine, Junge. Es wird Zeit, dass wir diese Schaluppe finden, bevor sie ihre Farbe und ihren Namen abermals wechselt.“
Mit einiger Mühe trieb er einen Fährmann auf, der im Heck seines Boots vor sich hingedöst hatte. Der mürrische Mann war bereit, die beiden zur „Tiger“ hinauszurudern, und verlangte angesichts der späten Stunde dafür den doppelten Preis. Widerstrebend war Jonathan einverstanden und verstaute Tom zwischen den Ruderbänken, wo der Junge auf der Stelle schnarchend einschlief.
Fertig repariert und komplett ausgestattet lag die „Tiger“ in der Hafeneinfahrt auf Reede. Der Fährmann begann seine Riemen gleichmäßig durchs Wasser zu ziehen, und Jonathan seufzte unglücklich. Die Wolken im Osten färbten sich langsam heller. Bald würde Demaris aufwachen und seinen Brief finden. Großer Gott, welches Unrecht hatte er ihr doch angetan ! Er rieb sich mit der Hand über die Augen und versuchte,
nicht an Demaris und Nantasket zu denken.
„Da ist die ,Tiger, Sir“, sagte der Fährmann endlich. „Da, an Backbord.“
Eher uninteressiert blickte Jonathan in die Richtung, in die der Fährmann mit dem Kopf deutete. Mit den Gedanken war er ganz woanders. Über die „Tiger“ und die Eigenheiten ihres Kapitäns würde er noch früh genug alles erfahren. Als er die Schaluppe jedoch sah, die sich sanft in der ablaufenden Tide wiegte, war er plötzlich hellwach.
Ihm schien es, als hätte er einen lieben alten Freund in einem fremden Land wiedergesehen. Während er die vertrauten Linien des Schiffs betrachtete, lösten sich alle Rätsel und wurden zur greifbaren Vergangenheit seines eigenen Lebens. Er musste sich buchstäblich an der Ruderbank festhalten, um nicht von den auf ihn einströmenden Erinnerungen hinweggespült zu werden.
Die Ladung bestand aus Zucker, Melasse, Baumwolle und Waren aus Frankreich. Die „Leopard“ kam von Bridgetown und befand sich einen Tag vor Saybrook, als Jonathan das Boot mit den Schiffbrüchigen sah und mit seiner Schaluppe beidrehte, um die Leute aufzunehmen. Sobald sich jedoch die Fremden an Bord befanden, musste er feststellen, dass sein Akt der Nächstenliebe ein entsetzlicher Fehler gewesen war.
Überall waren plötzlich Pistolen, Dolche und auch Tomahawks zu sehen, und die Fremden fielen gnadenlos über seine unbewaffnete Mannschaft her.
In
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