Flagge im Sturm
den Kopf, weil er die Wahrheit nicht glauben wollte.
Er hatte nie verstanden, welche Liebe und welches Glück sein Bruder in der Ehe zu finden schien, und jedes Mal wenn er, Jonathan, heimgekehrt war, hatte er damit geprahlt, dass er der ewige Junggeselle zu bleiben gedachte, was schließ-lich einer der Vorteile eines Zweitgeborenen war. Nachdem er am Strand von Nantasket angespült worden war, hatte er das allerdings anders gesehen.
Jetzt dachte er an den so kalt formellen Brief, den er Demaris geschrieben hatte, und an den unnötigen Schmerz, den seine Worte ihr bringen würden. Unbewusst schaute er zum Ufer zurück, als ob er dort das Haus sehen könnte, das er hinter sich gelassen hatte.
Es war noch nicht zu spät. Er konnte noch umkehren und um Vergebung bitten, umkehren zu dem Glück, das er in Demaris’ Liebe gefunden hatte. Er konnte Tom jetzt sicher auf die „Tiger“ verfrachten, mit dem Fährmann zum Hafen zurückkehren und die Idee aufgeben, sich der Mannschaft der Schaluppe anzuschließen. Noch vor dem Mittag konnte er sich wieder auf Nantasket befinden.
Langsam wandte er den Kopf zu der Schaluppe zurück. So sehr sich sein Herz nach Demaris sehnte, so genau wusste er doch, da ihm keine wirkliche Wahl blieb. Wenn er der Mann sein wollte, den sie verdiente, dann musste er versuchen, die Schaluppe - seine Schaluppe! - zurückzugewinnen und seinen Stolz mit ihr. Nur, wie sollte er das bewerkstelligen?
Der Ausguck des Seglers rief sie an, und der Fährmann rief zurück, während er die letzten Schläge an die steile Bordwand der „Tiger“ heranruderte. In wenigen Minuten würde Jonathan wieder auf ihrem Deck stehen, und je mehr er vorher noch über sie erfahren konnte, desto besser.
„Was weißt du über die ,Tiger“?“, fragte er den Fährmann rasch und leise. „Woher ist sie gekommen? Was ist sie gefahren? Wer sind ihre Eigner?“
Der Mann spürte Jonathans dringendes Interesse, oder möglicherweise fühlte er sich auch nur geschmeichelt, gefragt zu werden. Jedenfalls verlangsamte er die Ruderschläge.
„Ja, sie ist schon ein seltsamer Vogel. Wurde als Kapergut in den Hafen geschleppt. Weil sie jedoch einerseits nicht unter spanischer Flagge gefahren ist und andererseits auch nicht als Freibeuter gemeldet war, fragt man sich natürlich, wer sie eigentlich gekapert hat.“
Weise schüttelte der Fährmann den Kopf. „Ihr Kapitän ist ums Leben gekommen, und die Umstände wurden nie richtig geklärt. Weil jedoch die Leute, die jetzt das Interesse an ihr haben, zur Oberschicht gehören, redet man am besten nicht allzu viel über das Schiff.“
Jonathan nickte ungeduldig. Dass die Umstände, unter denen die Schaluppe aufgebracht wurde, zweifelhaft waren und dass er von den Newporter Behörden keine Hilfe erwarten durfte, war ihm schon klar.
„Was weißt du über Kapitän Graham?“
„Nicht viel“, gab der Fährmann zu. „Andrew Graham stammt aus der Karibik, ist nicht in Newport aufgewachsen. Die neuen Eigner haben ihn extra hergeholt. Man sagt, er sei ein erstklassiger Kämpfer, besonders gegen die Spanier. Ich hörte munkeln, er habe sich schon viel zu lange in diesen Gewässern aufgehalten, wenn man bedenkt, dass es in Connecticut gar keine Spanier mehr gibt.“
„Man flüstert“, fuhr er vertraulich fort, „er könnte das eine oder andere Schiff, das überhaupt nicht auf der Liste stand, aufgebracht haben, nur um im Geschäft zu bleiben, wenn Ihr versteht, was ich meine. Wer ein guter Freibeuter ist, ist auch ein guter Pirat, besonders wenn er sich nicht so sehr um den Unterschied kümmert. Nun ja, ich bin arm, er wird reich, das ist nun mal der Lauf der Welt, nicht?“
Inzwischen war es so weit, dass Jonathan diesen Kapitän Graham selbst in Augenschein nehmen konnte, denn das Fährboot hatte die Schaluppe erreicht und ging jetzt längsseits. Er schaffte es, den beklagenswerten Tom an Bord zu bugsieren, und folgte ihm dann mitsamt dem kleinen Seesack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt.
Auf den ersten Blick bemerkte Jonathan die Veränderungen auf der Schaluppe. In ihre Seiten waren Öffnungen für Kanonen geschnitten worden, und das Deck hatte man dergestalt umgebaut, dass es das zusätzliche Gewicht zu tragen vermochte.
Davon abgesehen, fielen ihm noch viele weitere Kleinigkeiten auf. An dem großen Teerfleck auf den Decksplanken zum Beispiel, oder daran, wie nachlässig das Tauwerk aufgerollt war, zeigte sich deutlich, dass nicht mehr er, sondern ein anderer hier
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