Flaming Bess 04 - Das Grauen an Bord
…
8.
Die Zentrale der NOVA STAR war abgedunkelt, und das helle Rechteck des großen Hauptbildschirms war wie ein Fenster in eine andere Welt, in eine Welt des Grauens.
Der Bildschirm zeigte den Ausgang des Leegartens im 3. Oberdeck, ein Torbogen aus schimmerndem Metall, dahinter das weiße Band eines Kieswegs, gesäumt vom satten Grün einer Wiese. Am Rand des Aufnahmebereichs kleine, schattenhaft erkennbare Gestalten.
»Die Aufnahme wurde vor rund einer Stunde gemacht«, erklärte Flaming Bess. Ihr Blick wanderte zu Glory Moon; das kaffeebraune, katzenhaft schöne Gesicht der Psychonautin hatte sich verhärtet, und ihre Hände waren um die Seitenlehnen ihres Spezialsitzes verkrampft, wie in Erwartung der kommenden Schrecken. Bess wußte, daß die anderen Crewmitglieder von ähnlichen Gefühlen bewegt wurden, doch sie konnte ihnen die Videoaufzeichnung nicht ersparen. Dies war die Realität, und sie mußten sich ihr stellen. »Achtung«, fügte Bess hinzu, »gleich geschieht es.«
Die verschwommenen Gestalten kamen näher — ein Dutzend Kinder, keines älter als sechs Jahre. Mit angstvoll verzerrten Gesichtern flohen sie aus dem Leegarten. Ihre kleinen Münder waren weit aufgerissen, aber man hörte keinen Laut. Die völlige Stille, in der sich die Tragödie abspielte, erschien Flaming Bess entsetzlicher als alles andere.
Die Kinder stoben davon und verschwanden aus dem Erfassungsbereich
der Kamera. Dann erschienen zwei Nachzügler, ein Junge und ein Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Das Mädchen stolperte und fiel, blieb benommen unter dem Torbogen liegen. Der Junge verharrte einen Moment, drehte sich und machte einen Schritt auf das Mädchen zu, doch plötzlich tauchte eine Frau im Rund des Gartenausgangs auf.
Die Frau war groß und kräftig, hatte goldblonde Haare und ein rundes, rosiges Gesicht, und ihre Lippen waren zu einem wilden, bösen, wahnsinniger Grinsen gekrümmt. In den Händen hielt sie einen Gürtel, der zu einer Schlinge verknotet war.
Der Junge hob abwehrend die Arme und stolperte zurück, wirbelte herum und rannte fort. Nur noch die Frau und das kleine Mädchen waren zu sehen. Die Frau riß das Mädchen an den Schultern hoch; es wehrte sich verzweifelt, in Todesangst, aber die Frau war zu stark.
Dann legte sie dem Mädchen die Schlinge um den Hals.
Wir haben das Grauen an Bord, dachte Flaming Bess. Das ist es, was ich euch zeigen will … Sie fröstelte.
Die Frau begann das Kind zu erdrosseln, und ihr rosiges Gesicht glühte vor Freude.
Aus dem Hintergrund der Zentrale drang ein erstickter Aufschrei.
»Ruhig, Fortunato«, hörte sie Ken Katzensteins heisere Stimme. »Es ist gleich vorbei.«
Vorbei? dachte Flaming Bess, ohne die Augen von dem entsetzlichen Geschehen auf dem Bildschirm zu wenden. Nein, es ist nicht vorbei. Das ist erst der Anfang.
Das Mädchen zuckte nur noch schwach.
Plötzlich ruckte der Kopf der Frau hoch. Mit einer Mischung aus Haß und Furcht starrte sie in die Tiefe des Korridors, der außerhalb des Erfassungsbereichs der Videokamera lag. Irgend jemand schien sich von dort zu nähern.
»Achtet auf ihre Augen«, sagte Flaming Bess.
Das Gesicht der Frau geriet groß ins Bild und füllte den Monitor aus. Und ihre Augen …
Es war wie bei Samwell A. Goldberg. Ein grünlichblauer Belag auf den Augäpfeln, wie Moos oder Schimmel, der nur die Pupillen verschont hatte.
Das Gesicht schrumpfte. Bess sah, wie die Frau die Schlinge um den Hals des Mädchens lockerte und sich zur Flucht wandte, doch da schoben sich mehrere Männer in den dunkelblauen Uniformen des Sicherheitsdienstes ins Blickfeld. Sie waren mit Schockern bewaffnet. Einer der SD-Männer hob die Waffe, zielte und schoß. Sekundenlang war die Frau von einem Flimmern umgeben. Als das Flimmern erlosch, brach sie gelähmt zusammen.
Der Monitor flackerte, und die Videoaufzeichnung wich dem sternendurchglühten Schwarz des interstellaren Weltraums. Nur langsam löste sich Flaming Bess aus dem Bann der schrecklichen Bilder. Sie sah die Sterne an, die hier am Rand des dhrakanischen Reiches die düsteren Nebel der kosmischen Gaswolken verdrängt hatte, und dachte an die Flüchtlinge in den unteren Decks.
Werden sie nie zur Ruhe kommen? fragte sich Flaming Bess. Werden die Gefahren nie ein Ende nehmen? Wird es immer so weitergehen — kaum ist eine Bedrohung abgewendet, taucht schon die nächste auf? Wir brauchen eine Atempause, dachte sie. Die Menschen in den Flüchtlingsdecks sind
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