Flamingo (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
schon in wenigen Stunden sollte ich Tonys Geschichte selbst erfahren, fast so, als habe er ein lang vergessenes Detail aus meinem eigenen Leben aus meinem Gedächtnis gegraben und mir in die widerstrebenden Hände gelegt.
Bevor ich wieder zu Tonys Haus rausfuhr, ging ich mit Bootsie zum Mittagessen in ein preiswertes mexikanisches Restaurant auf der Dauphine Street. In ihrem weißen Kostüm, den hochhackigen schwarzen Schuhen und der lavendelfarbenen Bluse sah sie absolut großartig aus, und ich glaube, sie hatte vielleicht die beste Haltung, die ich je bei einer Frau gesehen hatte. Sie saß kerzengerade auf ihrem Stuhl, während sie an ihrem Weinglas nippte oder kleine Bissen von ihrer Enchilada mit Meeresfrüchten nahm. Ihr Kinn zeigte leicht nach oben, und ihre Gesichtszüge waren gefaßt und weich.
Aber das Lokal war zu voll, als daß wir uns richtig hätten unterhalten können, und in meinem Kopf drängten sich Fragen, die ich weder zu stellen noch in den richtigen Bezug zu setzen vermochte. Was mir am meisten an Bootsie zu schaffen machte, hatte durchaus egoistische Motive. Ich wollte sie genauso, wie sie im Sommer 1957 gewesen war. Ich konnte mich nicht damit abfinden, daß sie in die Mafia eingeheiratet hatte, daß ihre Geschäftspartner aus der Giacano-Familie kamen, daß Geld in ihrem Leben so wichtig war, daß sie sich von den Giacanos nicht lösen mochte.
Irgendwie empfand ich das als Verrat; an mir oder genauer gesagt, der Jugend und Unschuld, die ich krampfhaft in sie hineinprojizierte, was nicht gerade fair von mir war. Welche Ironie, dachte ich: Ich hatte einen großen Teil meines Lebens als Erwachsener mit Alkohol zerstört, meine erste Frau buchstäblich vertrieben, meine zweite Frau, Annie, in eine Alptraumwelt von Drogen und psychopathischen Killern hineingezogen, und jetzt war ich ein berufsmäßiger Judas, der selbst nicht mehr genau wußte, wem er Loyalität schuldete. Aber dennoch war ich immer noch willens, Bootsie an den moralischen Pranger zu stellen.
»Was plagt dich?« fragte sie.
»Wie wäre es, wenn wir einfach alles hinschmeißen? Deine Automaten, deine Verbindung mit diesen Clowns, mein idiotisches Spiel mit dem Gesocks und den Irren. Wir könnten das alles aufgeben und zurück nach New Iberia gehen.«
»Ein schöner Gedanke.«
»Ich meine es ernst, Boots. Schließlich hat man nur ein Leben. Warum sollte man noch mehr kostbare Zeit damit verschwenden, die Fehler von gestern zu bestätigen?«
»Ich muß dir was sagen.«
»Was?«
»Nicht hier. Können wir uns später am Abend noch treffen?«
»Ja, sicher, aber sag mir, worum es geht, Boots.«
»Später«, sagte sie. »Kannst du zum Abendessen zu mir kommen?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst ?«
»Da sind ein paar Dinge, die ich geregelt kriegen muß.«
»Wäre dir ein anderer Abend lieber?« Ihr Blick schweifte auf einen unbestimmten Fixpunkt im Restaurant.
»Nein, ich werde alles versuchen, um zu kommen.«
»Du wirst alles versuchen?«
»Um wieviel Uhr? Ich komme. Das verspreche ich.«
»Der Umgang mit diesen Leuten ist nicht gerade leicht, oder? Das läuft da nicht alles so, wie man es sich selbst vorgestellt hat, oder? Oder hast du etwa alles unter Kontrolle, wenn du dich in die Welt von Tony Cardo begibst?«
»Schon gut, Bootsie, ich war zu hart zu dir.«
»Nein, du warst uns beiden gegenüber zu hart. Wenn man jemanden liebt, gibt man es auf, Entscheidungen nur für sich selbst zu treffen. In jenem Sommer liebte ich dich so sehr, daß ich dachte, wir steckten in einer Haut.«
Ich blickte sie hilflos an.
»Halb sieben«, sagte sie.
»In Ordnung«, sagte ich. Ich wiederholte es noch einmal. »Wenn irgendwas schiefläuft, rufe ich an. Mehr kann ich wirklich nicht tun. Aber ich komme bestimmt.«
Und ich hatte gerade vorgeschlagen, hier alles hinzuschmeißen und zurück nach Bayou Têche zu gehen.
Im Licht der Kerze, die in der kleinen roten Lampe auf dem Tisch brannte, war schwer zu sagen, was in ihren dunklen Augen stand.
Als ich wieder in Tonys Haus war, versteckte ich den Kassettenrecorder in einem Schrank in meinem Zimmer. Das Haus war leer und so still, daß ich Uhren ticken hören konnte. Ich schlüpfte in Turnhose und Laufschuhe, joggte eine halbe Stunde durch die Umgebung und den Lakeshore Drive entlang. Dann wollte ich auf dem Rasen zehn Liegestütze machen, aber die Muskulatur in meiner linken Schulter war durch die Schußwunde immer noch geschwächt, und nach drei Liegestützen knickte ich auf
Weitere Kostenlose Bücher