Flamingos im Schnee
den Steinchen in der Schiene knirschte. »Die muss ich mal säubern und ölen«, sagte er und fuhr sich mit den Fingern durch die Mähne. Er hatte eine karamellfarbene Haut und braune Augen mit goldenen Sprenkeln darin. Seine Nase war ein abgerundeter Erker, wie bei den Plastiknasen an den Scherzbrillen, die man im Scherzartikelladen bekommt. Nur kleiner und zu den Proportionen seines Gesichts passend.
»Wie machst du das?«, fragte Cam.
»Einfach mit ein bisschen Multifunktionsöl. Keine große Sache.«
»Nein, ich meine, wieso tauchst du immer auf, wenn man dich braucht, wie der edle Ritter bei einer Dame in Bedrängnis?«
Asher zuckte die Achseln und stopfte seine Hände in die Taschen seiner Jeans, wobei ein waschbrettflacher, gebräunter Streifen Bauch zwischen seinem zu kurzen T-Shirt und dem Elastikbund seiner Unterhose zum Vorschein kam. Cam ertappte sich bei dem Impuls, mit dem Finger darüberstreichen zu wollen, was ihr eigentlich gar nicht ähnlich sah. Sie war eine Realistin und gab sich keinen Phantasien hin. Asher würde sich nie für sie interessieren. Immerhin war er der Footballstar der Stadt. Bei ihrer Ankunft hatten sie vor einem Geschäft nach dem anderen Plakate gesehen, mit denen man der örtlichen Highschool zu ihrem Sieg bei der Footballmeisterschaft des Staates Maine gratulierte. Cam fand das unglaublich albern – ein ganzer Bezirk huldigte einem Spiel für kleine Jungs. Mädchen dagegen bekamen nie die Chance, so gefeiert zu werden. Zu Halbgöttern glorifiziert zu werden. Zuerst schickte man sie in die Kirche, wo sie lernten, einen männlichen Gott anzubeten, und dann machte man aus ganz normalen Jungs Minigötter, damit sie die hier auf Erden anbeten konnten. Sie schwor sich, dass sie eines Nachts mit Cumulus losfahren und sämtliche Plakate mit der Aufschrift: W IR GRATULIEREN UNSERER M ANNSCHAFT – D RITTER P LATZ IM H OCKEY DER H UMMERDAMEN! überkleben würde.
»Soll ich dir dabei helfen?«, fragte Asher und zeigte auf den Eimer.
»Was? Äh, nee, danke, das schaff ich schon.« Sie löste endlich ihren Blick von seinem Bauch und wurde rot.
Daraufhin ging Asher zu seinem Kutschenhaus zurück, während Cam den Rasen überquerte und den steilen, felsigen Pfad zum Privatstrand des Hauses hinunterstieg. Der Strand war so voller Steine, dass man dort nicht barfuß gehen konnte. Cam stapfte in ihren schwarzen Chucks voran und watete mit ihnen auch ins Wasser. Das Wasser war so kalt, dass sie hätte schwören können, schon am Nördlichen Eismeer zu sein. Sie spürte regelrecht, wie die Adern in ihren Beinen sich zusammenzogen und wie bei einer Prellung pochten. Ihr war schleierhaft, wie Perry und ihre neuen Freundinnen den ganzen Tag darin herumspringen konnten. Sie hockte sich für ein Weilchen auf einen Felsen und beobachtete die Wellen, die heranrauschten, Steine mit sich führten und auf den Strand spuckten.
Ihr neuerdings so magerer Körper, ausgezehrt von der Krankheit, fühlte sich manchmal so schön biegsam an. Sie hätte stundenlang hier mit den Knien an den Ohren hocken können, wie die winzigen giftigen Frösche, die sie im National Aquarium in Baltimore auf ihrem Weg hierher gesehen hatten. Als sie noch ein »schweres Mädchen« war, hätte sie das nie hingekriegt.
Sie blickte hinunter in einen kleinen Gezeitentümpel, ein Fenster zu einer ganzen Welt. Sie entdeckte einen Seestern, treibende Algen, eine Schnecke, ein paar Meereswürmer, Plankton, Sandkörner, Moleküle von Sandkörnern, Atome in den Molekülen von Sandkörnern, Protonen, Neutronen und kreiselnde Elektronen.
Die Unendlichkeit faszinierte sie. Wie Systeme und Universen in die eine Richtung unendlich klein wurden und in die andere unendlich groß. Wie der Aufbau eines Atoms so genau dem des Sonnensystems entsprach. Wie nichts ein Ende hatte. Außer ihrem Leben, anscheinend. Das würde ziemlich bald enden, aber alles andere würde sich ohne sie weiterdrehen. Ihr schwindelte, wenn sie daran dachte, und sie stand auf, damit sie nicht umkippte.
»Ist schon verrückt, wie nichts jemals aufhört, oder?« Asher stand etwa drei Meter weit weg, dort, wo das Steilufer senkrecht zum Strand abfiel. Die Topografie dieses Ortes enthielt keine allmählichen Übergänge. Es gab keine sanft sich wellenden Hügel oder weich geformten Dünen. Alles stürzte in spitzen Winkeln aufeinander ein.
»Würdest du bitte damit aufhören, dich an mich anzuschleichen? Damit kannst du zum Beispiel sofort aufhören.«
»Pst. Sieh
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