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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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Du würdest ihn kennen, wenn du mal das Haus verlassen würdest.«
    »Eine Papaya an einem Obststand zu finden ist kein Wunder«, widersprach Cam, während sie versuchte, einen Hängeschrank zu öffnen, der von lauter Farbe zugeklebt zu sein schien. Sie hätten einfach die natürliche Holzoberfläche belassen sollen , dachte sie. Endlich löste sich die Tür mit einem schmatzenden Geräusch, schwang auf und knallte dumpf hallend gegen die Schrankfront.
    Das Haus war zwar ganz hübsch innen, aber es hatte eine weibliche Hand nötig. Keine Frau würde die angemalten Schränke oder die aus Ankern gemachten Lampen, den muffigen Geruch nach nasser Wolle, die bunt karierten Wolldecken auf den Betten oder die alten See– und Sternenkarten dulden, die neben präparierten toten Fischen und Hirschgeweihen an den Wänden hingen.
    »In Maine ist es ein Wunder, stimmt’s, kleiner Tweety?«, sagte ihre Mutter und spitzte die Lippen vor dem Käfig, um Tweety ein Küsschen zu geben.
    »Gib das her. Du sollst ihn nicht mehr füttern«, sagte Cam. »Ich will nicht, dass du ihn mit deinem falschen Getue völlig in Verwirrung bringst.«
    »Er ist selbst ein Wunder, Campbell.«
    Nein, dass Tweety sie in Maine gefunden hatte, war kein Wunder. Haustiere fanden ständig wieder nach Hause, auch über weite Strecken. Das war ein Instinkt, dieses Vermögen, nach Hause zu finden. Hatte außer ihr niemand davon gehört? Cam war zwar hocherfreut, dass Tweety über dieses Vermögen verfügte, aber nicht so hysterisch vor Glück, dass sie das als ein Wunder bezeichnen würde. Auch wenn es nicht ihr eigenes Zuhause war, zu dem er geflogen war. Und obwohl er offenbar trotzdem genau gewusst hatte, wo er Cam finden würde: Es war und blieb ein Instinkt. Das Verhalten eines Zugvogels.
    Cam hielt ihm das Papayastück hin, doch er drehte den Kopf weg und erteilte ihr eine Abfuhr. »O nein, du nicht auch noch, Tweetyvogel!«
    Sie überließ Tweety seiner neuen Freundin und stieg wieder die Wendeltreppe zu ihrem Zimmer hinauf.
    »Campbell, warum bleibst du nicht hier unten bei uns?«, rief ihre Mutter ihr nach. »Was machst du die ganze Zeit allein dort oben?«
    »Mir ist einfach nach Alleinsein«, antwortete Cam, während sie mit ihrem Glas Erdnussbutter und einer gigantischen, einen halben Meter langen Selleriestange vom wundersamen Obststand die Treppe hinaufging.
    Im Gegensatz zu den meisten Witwengängen in Maine, die nichts als holzsplittrige Geländer um das Dach waren, umschloss der von Avalon ein gläsernes Zimmer, eine Kuppel, in der die Witwe des Besitzers, geschützt vor den Elementen, dereinst Stunde um Stunde sitzen und sich nach ihrem Mann verzehren konnte.
    Cam hatte es zu ihrem Zimmer erkoren und fand es wunderbar hier oben zwischen Wolken und Meer, zwischen Leben und Tod, herausgehoben aus der Alltagswirklichkeit.
    Es gab gerade genug Platz für eine Matratze, einen kleinen Holzstuhl, auf den sie ihren Laptop platzierte, und ihren Koffer, aus dem sie lebte, weil sie keinen Schrank hatte. Ihr Koffer war ein richtiger Lederkoffer, nicht so ein modernes, schäbiges Kunststoffding, das die Leute auf dem Kofferkarussell am Flughafen kaum auseinanderhalten konnten. Er stammte aus den Vierzigerjahren und war aus Krokodilleder, und sie hatte ihn von ihrer Großmutter geerbt. Er trug immer noch die Aufkleber von der Reise nach »Übersee«, die ihre Urgroßeltern damals unternommen hatten. Auf einem verblassten orangefarbenen stand L ISSABON, auf einem grünen B ARCELONA .
    Sie wühlte darin herum und suchte nach etwas Warmem zum Überziehen. Sich warm anzuziehen war etwas völlig Neues für sie. Jetzt verstand sie endlich, warum Leute sich dazu herabließen, diese unförmigen Funktionsklamotten von Patagonia zu tragen. Was würde sie jetzt nicht alles für eine Fleecejacke geben, sogar von einem Rollkragenpullover träumte sie inzwischen. Oder einer Daunenweste. Sie schichtete übereinander, was sie hatte – einen schwarzen Schal, eine graue Strickjacke und ihre dünne Motorradjacke aus Kunstleder. Dann griff sie in eine Seitentasche aus gelbem Seidenstoff, die für die »unaussprechlichen Dinge« gedacht gewesen war. Doch statt des Paars Wollsocken, auf das sie gehofft hatte, zog sie das magische Ahornblatt aus New Jersey und ihre Flamingoliste hervor.
    Das Blatt Papier war zerknittert und mittlerweile ganz weich, weil sie es seit ihrem Streit mit Lily in North Carolina mehrmals zusammengeknüllt und wieder geglättet hatte. Beinahe hätte sie

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