Flamme der Freiheit
weiter. Er rannte ihr hinterher, griff sie beim Arm und hielt sie einfach fest. Eleonora drehte sich langsam zu ihm um.
»Du wirst nicht aufhören!«, widersprach er. »Mir zuliebe«, setzte er leise hinzu. Sanft zog er sie an sich.
Eleonora stockte der Atem, aber sie ließ es geschehen. Auch als er vorsichtig den Spitzenschleier, den sie sich wieder über das Gesicht gezogen hatte, anhob, ließ sie ihn gewähren. Aber sie zitterte genauso wie die damals siebzehnjährige Eleonora im Park von Sophienhof. Als sein Mund sich ihren Lippen näherte, leistete sie keinen Widerstand. Und als er sie küsste, war es, als wäre die Zeit stehengeblieben. Es war genauso überwältigend, wenn nicht überwältigender als damals vor neun Jahren. Seine Hände lagen auf ihren Hüften und zogen sie noch näher an sich. Und Eleonora hob sich auf die Zehenspitzen, um Alexander mit beiden Armen zu umfangen.
Als sie sich atemlos voneinander lösten, herrschte tiefe Dämmerung. Erneut begann eine Kirchturmuhr zu schlagen, und wieder zählte Eleonora im Geiste mit.
»Neun Uhr vorbei, da ist die letzte Kutsche nach Hohenschönhausen schon längst weg!«, rief sie erschrocken aus. »Was mache ich nun?«
»Das Einfachste von der Welt«, entgegnete Alexander lächelnd. »Du kommst mit mir nach Hause.«
»Nach Hause?«
»Ja, nach Hause«, bestätigte er. »Es ist ja nicht so weit, du müsstest dich doch eigentlich erinnern.«
»Du meinst?«, vergewisserte sich Eleonora atemlos und stockte.
»Ganz richtig, wir gehen jetzt nach Hause, nach Hause zum Stadtpalais der Familie Prewitz zu Kirchhagen, keine halbe Stunde Fußweg von hier entfernt. Das müsstest du doch schaffen. Du warst doch stets gut zu Fuß.« Er hakte sie unter und wollte sie mit sich ziehen. Hastig entzog Eleonora ihm den Arm und blieb stehen.
»Das kann ich nicht, da will ich nicht mehr hin.«
»Aber warum denn nicht?«, fragte Alexander erstaunt. »Hast du Angst um deinen guten Ruf?«
Eleonora presste die Lippen zusammen und schwieg gekränkt.
»Verzeihung, ich wollte dich nicht verletzen«, entschuldigte er sich sofort. »Aber du kennst doch die örtlichen Gegebenheiten. Wir werden zwar unter einem Dach schlafen, doch weit voneinander entfernt. Du in deinem alten Zimmer und ich im Gästetrakt, den ich mir inzwischen als mein eigenes Domizil ausgebaut habe.«
»Ich kann es trotzdem nicht«, weigerte sich Eleonora.
»Es gibt auch noch genügend Personal im Haus, das sich um dich und mich kümmern und mit Argusaugen darüber wachen wird, dass ich deiner Tür nicht zu nahe komme«, spöttelte Alexander. »Wir haben doch oft genug unter einem Dach geschlafen.«
»Das waren ganz andere Zeiten«, entgegnete Eleonora gepresst.
»Da muss ich dir leider recht geben«, pflichtete ihr Alexander unvermutet ernst bei. »Es waren völlig andere Zeiten, die wir nicht zurückholen können. Es ist viel geschehen in den letzten Jahren, und genau darüber möchte ich mich noch weiter mit dir unterhalten. Wo willst du denn sonst hingehen und die Nacht verbringen, wenn du nicht mit mir kommen kannst?«
Eleonora schwieg betreten.
»Eleonora, komm, gib deinem Herzen einen Stoß. Du warst der Liebling meiner Großmutter. Sie würde mich verfluchen, wenn ich dich bei Nacht und Nebel, gerade in dieser Nacht, hier im Tiergarten deinem Schicksal überließe. Willst du auf einer der Parkbänke übernachten oder dich auf eine Wiese legen? Das ist viel gefährlicher, als meine Einladung zu akzeptieren.«
»Einladung?«, wiederholte Eleonora zögernd.
»Wir haben das ganze Palais für uns, denn meine Eltern sind nicht da«, fuhr Alexander fort. »Das gesamte Personal steht allein nur uns zur Verfügung und wird sich freuen, sich um uns zu kümmern und uns verwöhnen zu dürfen.«
Damit hatte er Eleonoras Widerstand doch zum Schmelzen gebracht.
»Gut, ich komme mit«, sagte sie und nahm seinen dargebotenen Arm.
26
E s hatte so etwas Leichtes, etwas Selbstverständliches, neben Alexander durch die laue Sommernacht zu schreiten. Zwar lag Berlin immer noch in tiefer Trauer um seine geliebte Königin, aber hier und da war neben dem gedämpften Flüstern der Passanten auch schon einmal ein fröhliches Lachen zu hören, schwoll eine Unterhaltung zu normaler Lautstärke an. Alexander legte einen flotten Schritt vor. Eleonora gelang es aber sehr schnell, sich seiner Länge und dem Tempo anzupassen. Seite an Seite liefen sie über die knirschenden Kieswege, bis sie das hellerleuchtete Zentrum der
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