Flamme von Jamaika
worden war. Falls alles nach Plan lief, würden sie dort auf Lena warten.
«Links siehst du das Wag Water», erklärte Jess mit verhaltener Stimme. «Und der kleine Ort geradeaus ist Stony Hill. Du wirst verstehen, dass ich dich nicht bis zur Kapelle bringen kann. Aber ich werde von hier aus deinen Weg beobachten und darauf aufpassen, dass du wohlbehalten dort ankommst.»
Lena nickte schweigend, obwohl die Furcht vor dem, was alles geschehen konnte, wenn sie Jess erst hinter sich gelassen hatte, sie geradezu auffraß. Dann fiel ihr noch etwas ein. Etwas Wichtiges, das sie ihm bereits angekündigt hatte, doch er schien es vergessen zu haben. Mit tauben Fingern kramte sie in ihrer Tasche, die sie hatte mitnehmen dürfen. Zitternd hielt sie ihm das mit Samt ausgelegte Kästchen entgegen.
«Mein Schmuck», krächzte sie kaum hörbar. «Wir hatten doch gesagt, dass du ihn an dich nimmst und ihn mir zurückgibst, wenn wir uns wie verabredet wiedersehen.»
Zögernd nahm er das Kästchen entgegen und steckte es in die Satteltaschen.
«Ich werde es hüten wie meinen Augapfel», versicherte er und lächelte wehmütig.
Dann umfasste er Lenas schmale Taille, um sie aus dem Sattel zu heben. Vorsichtig, als ob sie aus kostbarem Porzellan bestünde, stellte er sie auf die Füße.
«Glaub mir», bekannte er heiser, «dich dort hinauszuschicken, in dem Wissen, dass du damit in die Höhle des Löwen zurückkehrst, ist das Schwerste, was ich je getan habe.»
Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern riss sie in seine Arme und drückte sie an sich. Willenlos ließ sie sich von ihm küssen.
«Hör zu», flüsterte er mit erstickter Stimme. «Du wirst nun losmarschieren, bis du beim Kapellenturm angekommen bist. Sollte wider Erwarten dort niemand sein, der dich in Empfang nimmt, so geh in eines der Farmhäuser und bitte um Einlass. Falls bis morgen früh niemand erscheint, was ich nicht glaube, werde ich dich eigenhändig zum nächsten Hafen bringen.»
Lenas Augen waren von Tränen erfüllt, als sie sich umdrehte und schnurstracks davonging. Wie betäubt stolperte sie durch das hohe Gras, die Augen fest auf die schwarzen Schatten der Häuser gerichtet, die ihr beinahe unerreichbar erschienen. Sie spürte den Hauch von Salz auf den Lippen, während sich ihre Brust zu einem eisernen Gefängnis zusammenzog.
Als sie sich noch einmal zu Jess umdrehte, war er bereits zwischen den Felsen und Bäumen verschwunden. Plötzlich schossen Reiter aus allen Richtungen in vollem Galopp an ihr vorbei und jagten wie unselige Geister über die Steppe. Schüsse zerrissen die Stille, und bevor sie es sich versah, wurde sie von einem starken Arm gepackt und landete auf dem Sattel eines riesigen Pferdes.
«Keine Angst, Mylady», raunte ihr eine dunkle Stimme mit einem harten, schottischen Akzent ins Ohr.
Als sie sich zu dem Mann umdrehte, der mit festem Griff dafür sorgte, dass sie nicht hinunterfiel, schaute sie in das Gesicht eines älteren Soldaten, der die rote Uniform eines britischen Kavalleristen trug. In dem Durcheinander verlor sie ihre Tasche, doch das war nun egal, weil sich darin ohnehin nichts mehr befand, was ihr hätte wichtig sein können.
Der Mann spornte sein Pferd an, und die Umrisse von Stony Hill kamen erschreckend schnell näher. Lena reckte trotz der Sorge, hinunterstürzen zu können, den Hals, weil sie sehen wollte, was hinter ihr in der Ebene geschah. Die halbe Kavallerie schien ausgerückt zu sein, um ihren Entführer zu jagen. Ihre Angst um Jess steigerte sich ins Uferlose. Ein Schwindel erfasste sie und ließ sie schier ohnmächtig werden. Es war, als ob sie ihre Atmung nicht mehr beherrschte und drohte zu ersticken. Panik kam in ihr auf. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen.
«Hey Mädchen, was machst du nur, halt dich fest!», rief eine alarmierte Stimme hinter ihr, und der Soldat zügelte spürbar das Pferd.
Lena verlor das Gleichgewicht und glitt dem Mann, der sie bis dahin gehalten hatte, unvermittelt aus den Händen. Dann war es plötzlich dunkel um sie.
Kapitel 25
Anfang Oktober 1831 // Jamaika // Höllentor
E in kreischender Schrei weckte Lena aus einem traumlosen Schlaf. Wie lange sie geschlafen hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Um sie herum war es taghell, und ihr Kopf dröhnte so schrecklich, dass sie am liebsten die Augen geschlossen gehalten hätte. Doch sie musste wissen, was um sie herum geschah und wo sie sich befand.
Langsam erkannte sie die halb vertraute Umgebung, die sie schließlich
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