Flamme von Jamaika
Geläut kilometerweit über die Ebene. Vor der Türe traf sie zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr auf Lord William, der sie misstrauisch beäugte.
«Guten Tag, meine liebe Schwiegertochter», versuchte der Lord sein Glück, indem er sich leicht verbeugte und sie mit einem angedeuteten Handkuss bedachte. «Ich bin froh, dass du die hinter dir liegende Odyssee so gut überstanden hast.»
Lena starrte ihm stumm in die Augen, ohne etwas erwidern zu können. Dabei hätte sie ihn liebend gerne angeschrien und ihm versichert, was für ein verdammtes Schwein er doch war.
«Sie kann nicht mehr reden», entschuldigte Edward ihr sonderbares Verhalten.
«Dr. Lafayette hat mich darüber unterrichtet, dass sie offenbar einen nachhaltigen Schock davongetragen hat», erwiderte Lord William. «Aber dass es so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht. Es bedeutet doch hoffentlich nicht, dass sie unwiederbringlich den Verstand verloren hat?»
«Und wenn schon, Vater», raunte Edward ihm mit einem süffisanten Augenzwinkern zu. «Sie ist willig wie nie zuvor und widerspricht mir nicht. Ein Trottel, der mehr von seiner Frau erwartet. Selbst wenn ich sie zehnmal am Tag nehmen wollte, sie hätte nichts dagegen. Wobei …», räumte er ein, «ich müsste lügen, wenn ich sage, dass sie besondere Begeisterung zeigt.»
«Wenn es dich zufriedenstellt, eine lebende Leiche zu vögeln, die außer einem verblödeten Grinsen keine weitere Regung zustande bringt …», bemerkte Lord William mit hochgezogener Braue.
«Solange sie uns den gewünschten Erben gebiert, soll es uns doch egal sein, ob sie beim Beischlaf Begeisterungsschreie von sich gibt. Sollte es mich danach verlangen, habe ich immer noch Yolanda.»
Er zwinkerte seinem Vater wissend zu, doch dieser wandte sich nur irritiert ab.
Na wunderbar, dachte Lena, im festen Willen, es den beiden heimzuzahlen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Vor der Kirche hatten sich schon zahlreiche Bedienstete eingefunden. Offenbar neugierig darauf, ob die Gerüchteküche zutreffend war und ihre Herrin sich merkwürdig verhielt, glotzten die meisten interessiert in ihre Richtung. Estrelle spannte zu Lenas Schutz einen gerüschten Regenschirm auf und übergab ihn Edward. Dieser hielt Lena so fest im Arm, dass sie noch nicht einmal wankte, als sie die breiten Treppen zum Hof hinabstiegen.
Der Wind war unterdessen stärker geworden und zerrte an ihrem hoch aufgesteckten Haar. Rasch führte Edward sie in Richtung Kapelle, wo Pastor Langley bereits vor der Tür auf sie wartete. Er hatte das Gebetbuch mit beiden Händen wie ein Bollwerk vor seine Mitte gepresst.
Auf dem Weg zum weit geöffneten Portal hastete Edward mit ihr an Hunderten von Sklaven vorbei, die allem Anschein nach vor dem Lagerhaus eine Messe unter freiem Himmel vorbereiteten. Ihnen war es nicht gestattet, die Kapelle zu betreten, und die meisten von ihnen wollten es gewiss auch gar nicht, weil sie keine Anglikaner, sondern Baptisten waren.
Als Lena mitten in der Menge einen hochgewachsenen, relativ hellhäutigen Priester entdeckte, der ebenfalls eine Bibel mit sich trug, stockte ihr der Atem. Sofort erkannte sie sein markantes Gesicht und die langen Haare, die er im Nacken zu einem strengen Zopf gebunden hatte. Jess! Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. O mein Gott! Es war Jess! Kein Zweifel. Doch was machte er hier? Für ihn war es brandgefährlich, sich auf dem Gelände von Redfield Hall aufzuhalten. Was, wenn ihn jemand wiedererkannte? Aber das konnte eigentlich nicht sein. Seit seinem Verkauf waren viele Jahre vergangen, und der kleine Junge war schmächtig wie ein Vögelchen gewesen. Nun war er fünfundzwanzig und so breitschultrig und stark wie ein ausgewachsener Stier. Trotzdem war sein Auftritt in dieser Umgebung der reinste Wahnsinn.
Vater im Himmel!, schoss es Lena heiß durch die Glieder. Er war doch wohl nicht hierhergekommen, um sie persönlich aus Edwards Klauen zu retten? Nachdem sie ihre Verabredung nicht hatte einhalten können, musste er sich irgendeinen Reim auf ihr Fernbleiben gemacht haben. Freude, Panik und ein Gefühl verzweifelter Ohnmacht befielen sie, als er in ihre Richtung schaute. Am liebsten hätte sie sich losgerissen und lauthals geschrien. Doch so blieb ihr nur zu verharren und den Mann anzustarren, von dem sie glaubte, dass ihm ihr ganzes zukünftiges Leben gehörte.
Just in dem Moment blieb auch Edward stehen und küsste sie vor der gesamten weißen Belegschaft von Aufsehern, Advokaten, Schreibern,
Weitere Kostenlose Bücher