Flamme von Jamaika
Augen tun.
«Lasst den Jungen kommen», befahl der Commodore, als er mit Jess und einigen seiner bewaffneten Männer an einem mannshohen Eisenkäfig auf Rädern angekommen war, der von zwei Pferden gezogen wurde.
Plötzlich stand Tom mit gesenktem Kopf vor ihnen. Er konnte Jess nicht in die Augen schauen und zitterte am ganzen Leib.
«Ist das der Kerl, der Lady Helena entführt hat?», fragte Bolton streng.
Tom schaute nicht auf, sondern nickte nur stumm.
«Und wie ist sein Name?»
«Moses», flüsterte Tom so leise, dass man ihn kaum verstand.
«Ich kann dich nicht verstehen!», herrschte Bolton ihn an.
«Moses», sagte er nun ein wenig lauter.
«Und wo kommt er her?» Bolton packte ihn an seinen schmalen Schultern und schüttelte ihn so fest, dass sein Kopf hin- und herflog.
«Ich weiß es nicht, Herr», erwiderte der Junge mit erstickter Stimme. Plötzlich kullerten dicke Tränen über sein dunkles Gesicht, und seine vollen Lippen bebten so stark, dass er Mühe hatte zu sprechen.
«Er ist ein B… B… Baptistenpriester», stotterte er. «Ich kenne ihn erst seit wenigen Tagen. Er interessierte sich für die Lady, wollte wissen, wo ihr Schlafgemach sei. Ich konnte doch nicht wissen, dass er …»
«Ein Baptistenpriester also», wiederholte Bolton sarkastisch und bedachte Jess mit einem anzüglichen Blick. «Wohl eher ein Neger mit schmutzigen Phantasien, der sich an der wehrlosen, kranken Ehefrau eines weißen Lords vergeht.» Seine Stimme strotzte nur so vor Zynismus. «Ich bin gespannt, ob ihm die Folterkammer von Spanish Town genauso viel Spaß bereitet.»
Gott sei Dank! Jess fiel trotz aller Not ein Stein vom Herzen. Wenigstens machten sie Lena nicht mitverantwortlich. Und doch wusste er, dass es ein Trugschluss war, sie und das Kind in Sicherheit zu wiegen.
Kapitel 30
Ende Dezember 1831 // Jamaika // Harte Zeiten
L ena war der Ohnmacht nahe, als die Soldaten sie zur Kutsche abführten. Mit anzusehen, wie Jess beinahe vollkommen nackt in Ketten gelegt wurde, gab ihr das Gefühl zu ersticken. Ihre Beine knickten immer wieder ein, alles drehte sich.
Du musst einen kühlen Kopf behalten, beschwor sie sich. Wenn du hysterisch reagierst, würde es Jess nur schaden.
Doch was sollte sie stattdessen tun? Jess schwebte in Lebensgefahr, und sie war die Einzige in dieser verdammten Stadt, die an seiner Rettung interessiert war. Fieberhaft überlegte sie, wie sie der Situation entkommen konnte. Wenn sie doch nur an ihren Schmuck gelangen könnte! Dann würde sie ihn zur Bestechung der Soldaten einsetzen, damit sie Jess in die Freiheit entließen. Oder sie könnte sich einen Advokaten engagieren, um Jess vor Gericht zu vertreten. Doch das Haus brannte lichterloh. Der Wirt und die Huren nebst ihrer Kundschaft versuchten vergeblich das Feuer zu löschen. Zögernd rückten ein paar Löschmannschaften an, um ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte Hafengebäude zu verhindern.
«Da wären wir, Madame», erklärte einer der Soldaten, «wenn Sie nun bitte in die Kutsche einsteigen würden?»
Er öffnete die Tür, und ihre Hoffnung auf die Möglichkeit zu einer Flucht erstarb: Im Inneren des Wagens erwartete sie der Leibhaftige.
«Edward», wisperte sie stumm.
Er grinste.
«Mit mir hast du garantiert nicht gerechnet, was?»
Lena zog sich das Laken enger um Brust und Schultern, trotzdem fühlte sie sich plötzlich splitternackt. Schweigend ließ sie sich ihm gegenüber in den Sitz fallen. Der Soldat, der sie bis hierher begleitet hatte, warf ihrem triumphierenden Ehemann einen fragenden Blick zu.
«Ist in Ordnung, Ensign», erklärte Edward. «Sagen Sie dem Commodore, dass er gute Arbeit geleistet hat. Mein Vater und ich werden uns sobald wie möglich bei ihm erkenntlich zeigen.»
Lena wollte protestieren, doch sie besann sich eines Besseren. Edward sollte nicht wissen, dass sie vollkommen genesen war. Das würde ihm nur beweisen, dass sie mit Jess unter einer Decke gesteckt haben musste. Dies erschien ihr weitaus gefährlicher als die Tatsache, dass man Jess in ihrer Gesellschaft verhaftet hatte. Sie durfte keinesfalls den Verdacht erregen, an dieser vermeintlichen zweiten Entführung beteiligt gewesen zu sein. Jedenfalls solange nicht, wie sie noch unter Edwards Kontrolle stand. Sobald sich eine Gelegenheit fand, würde sie alles tun, um seinen Klauen zu entrinnen. Notfalls musste sie in die Berge gehen und nach diesem ominösen Cato suchen, damit er und seine Leute Jess aus dem Gefängnis
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