Flamme von Jamaika
werden. Jess konzentrierte sich auf einen dunklen, beweglichen Punkt und erkannte bei näherer Betrachtung, dass es mindestens fünf Menschen sein mussten, die eng aneinandergedrängt in geduckter Haltung voranschlichen.
«Ja», bestätigte er Nathans Frage knapp. «Ich kann sie sehen.»
«Na dann mal los», raunte sein Kamerad und gab seinem Muli mit einem Tritt in die Flanken zu verstehen, dass es von nun an flott bergab zu gehen hatte.
Bis zum Wag Water waren es noch ungefähr zwei Meilen. Nicht sehr weit, aber trotzdem mussten sie sich beeilen, wenn sie mit den Flüchtlingen noch vor Sonnenaufgang wieder in den Bergen verschwunden sein wollten. Am Fuß des Hügels angekommen, spähte Jess noch einmal durch das Fernrohr und stellte beruhigt fest, dass Kojos Männer stetig näher gekommen waren. Auch wenn um diese Zeit mit Sicherheit noch niemand auf den ausgetretenen Handelspfaden unterwegs war, mussten sie weiterhin wachsam sein. Manchmal gab es Nachtschichten auf den Plantagen, aber im Moment war keine Erntezeit für Zuckerrohr. Zudem galten die Wege besonders in dieser Gegend als zu schlecht gesichert, als dass die Plantagenbesitzer bei ihren Transporten das Risiko eines nächtlichen Überfalls eingehen wollten. Nicht zuletzt sorgten Jess und seine Leute mit regelmäßigen Raubzügen dafür, dass die Eigentümer von Zucker und Rum vorsichtiger geworden waren.
«Lässt du mich auch mal hindurchschauen?», fragte Nathan und streckte seine Hand nach dem Fernrohr aus, das Jess bei seiner Flucht aus Kuba hatte mitgehen lassen und nicht jedem überließ.
Nathan justierte die Linse und kniff die Lider zusammen. Doch anstatt Jess’ Beobachtung zu bestätigen, runzelte er die Stirn und gab ein Brummen von sich.
«Was ist das?», murmelte er in Patois, der Sprache der einheimischen Sklaven und Kreolen, die allgemein im Lager gesprochen wurde. Jess wurde hellhörig.
«Was meinst du?»
«Ich sehe zwei Reiter, die soeben hinter einer Baumgruppe aufgetaucht sind und direkt auf uns zuhalten. Wenn sie die Route beibehalten, werden sie Kojos Weg kreuzen, noch bevor er unseren Treffpunkt erreicht hat.»
Jess riss Nathan das Fernrohr aus der Hand und schärfte all seine Sinne.
«Wo?», fragte er und suchte mit geübtem Blick den Horizont ab, bis er die Gestalten fand, die Nathan gemeint haben musste.
«Denkst du, es sind Soldaten?», fragte Nathan beunruhigt.
Jess justierte den Ring des Glases neu, damit das Bild noch klarer wurde. Auf den ersten Blick stellte er erleichtert fest, dass es keine Rotröcke waren, wobei er sich nur an der Farbe der Reiter orientierte, die Kleidung als solche aber nicht erkennen konnte. Was für Vögel flatterten ihnen ausgerechnet jetzt in die Quere, wo Kojo schon so nah gekommen war? Dem hartgesottenen Maroon-Krieger selbst schienen die beiden nicht einmal aufgefallen zu sein, denn er verfolgte seinen Weg mit den vier Flüchtlingen unbeirrt weiter. Dass es Weiße sein mussten, sah man allein schon an den eleganten Vollblütern. Die Tiere, die sie ritten, kosteten gut und gerne hundert Pfund das Stück. Ein Schwarzer oder ein Kreole, selbst wenn er frei war, konnte sich solche Pferde eigentlich nicht leisten.
«La madre que te parió!», entfuhr es Jess. «Warum ausgerechnet jetzt?»
Sie würden die beiden töten müssen, um zu verhindern, dass sie ihren Treffpunkt und die daran beteiligten Personen verrieten. Inzwischen hatten sich die Reiter bereits auf eine halbe Meile genähert. Jess traute seinen Augen nicht.
«Es sind Frauen», murmelte er ungläubig, als er die Damensättel erkannte.
Die Reiter hatten ihre filigranen Strohhüte unter dem Kinn mit einem Seidentuch fixiert. Unter der geneigten Krempe waren ihre Gesichter nicht zu erkennen. Aber da war noch etwas, das Jess weitaus mehr in Atem hielt: Ihre Pferde trugen das Brandzeichen von Redfield Hall. Dann sah er, wie die Pferde der beiden Frauen plötzlich scheuten, weil sie von Kojos Leuten überrascht worden waren. Eine der Frauen stürzte in hohem Bogen aus dem Sattel. Das zweite Pferd ging durch und entfernte sich mit seiner Reiterin in rasendem Galopp. Jess traf eine Entscheidung. «Fang die Kleine auf dem Pferd ein, sie darf nicht entkommen!», rief er Nathan und zwei weiteren Brüdern zu.
Er selbst gab seinem Muli die Sporen und forderte Joel auf, ihm zu folgen. Er wollte sich so schnell wie möglich um Kojo und die am Boden liegende Frau kümmern. Als Jess den Schauplatz erreicht hatte, begrüßte ihn der
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