Flammen der Rache
dem Knebel und der Bandage zu befreien.
Sie schloss seine Hand sorgsam um die blutige Scherbe und drückte ein weiteres Mal seine Fingerkuppen darauf, um seine Abdrücke zu hinterlassen, dann ließ sie sie vorsichtig in die dunkle Pfütze fallen.
Zoe sah wieder aus dem Fenster. Es beschlich sie ein ungutes Gefühl, als sie weder Lily Parr im Garten noch Cals Taxi vor dem Eingang entdeckte.
Konnte es sein, dass Cal bereits hier gewesen und mit ihr davongefahren war, während sie sich um Howard gekümmert hatte? Zoe hoffte es. Sie schaute zur Straße und überlegte, ob sie ihn anrufen … Nein. Sie musste sich auf ihren Teil konzentrieren. Keine Ablenkungen. Das wäre ihr Verderben.
Sie zog die Tür zu, verstaute klammheimlich ihre Tasche im Spind, dann steckte sie den Kopf ins Schwesternzimmer. »Ich hole mir schnell einen Kaffee und einen Muffin am Kiosk«, sagte sie zu einer Kollegin. Sie staunte selbst über ihren völlig beiläufigen Ton. »Möchtest du auch etwas?«
»Nein, danke«, antwortete die Frau. »Bis gleich.«
Zoe sperrte die Stationstür auf und flirtete kurz mit dem Wachmann, bevor sie den Aufzug rief. Gott, sie war gut. Jetzt schnell ein paar Kohlenhydrate, um ihre Nerven zu beruhigen und ihren Herzschlag zu verlangsamen, dann war es Zeit für den amüsanten Teil: die Entdeckung, der Schock, das Blut.
Zu schade, dass sie die Show nicht für King aufzeichnen konnte.
Allein die Vorstellung reizte sie zum Lachen, und sie musste den Impuls unterdrücken.
Als Lily endlich in den West-Side-Schnellzug Richtung Stadt einstieg, war sie schlecht gelaunt und ihr taten die Füße weh. Ihr kindisches Verhalten hatte ihr auf juckende und piekende Weise in Erinnerung gerufen, warum sie kein Fan von Aktivitäten in der freien Natur war. Sie hatte sich bei ihrer Kalkulation, wie lange sie zu Fuß zum Bahnhof in Shaversham Point brauchen würde, um geschlagene zwei Stunden verschätzt. Als sie ihn endlich erreichte, taumelte sie vor Erschöpfung und war völlig ausgekühlt. Ihre Schuhe waren voller Matsch, und sie hatte das Gefühl, als würde etwas unter ihren Klamotten krabbeln. Zecken? Spinnen? Igitt.
Aber ein winziger Rest Glück war ihr geblieben, denn sie brach genau in dem Moment aus einem Dickicht neben den Gleisen hervor, als der letzte Zug nach New York gerade abfahren wollte. Sie hätte sich um ein Haar selbst geköpft, als sie im letzten Moment durch die offene Tür hechtete. Während der Fahrt machte sie sich Notizen zu Howards Enthüllungen auf ihrem Laptop, um die Details nicht zu vergessen. Noch im Zug hinterließ sie drei Nachrichten auf Dr. Starks Mailbox und dann noch mal zwei während des ermüdenden Marschs durch unterirdische Tunnel zu den U-Bahnen. Er war zu beschäftigt für einen Rückruf? Verdammte Ärzteschaft.
Das Einzige, was das Ganze erträglich machte, war Ninas Versprechen, sie mit indischem Essen, einem kühlen Mango-Lassi und ihrer Anteilnahme zu trösten. Lily brauchte das ganz dringend. Schnaufend kämpfte sie sich die Treppe hoch, die auf die Straßenebene führte, als ihr Handy vibrierte. Howards Arzt. Endlich. Sie fischte es aus ihrer Handtasche und hielt sich das andere Ohr zu, in dem vergeblichen Versuch, das ruckelnde Kreischen eines abfahrenden Zugs auszusperren.
»Dr. Stark?«, brüllte sie. »Danke, dass Sie zurückrufen. Ich muss mit Ihnen über Howard sprechen.«
»Lily, ich habe eine schlechte Nachricht.« Seine Stimme klang ungewöhnlich steif.
Eine schlechte Nachricht? Die wenige Kraft, die ihr geblieben war, strömte augenblicklich aus ihr heraus. Schwankend stand sie auf den Stufen. Was könnte sich an Howards Zustand verschlimmert haben, wenn nicht …?
Ihr Magen verkrampfte sich vor Panik. »Was für eine schlechte Nachricht?«
»Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber nachdem Sie heute Nachmittag gegangen waren … hat Howard … nun ja, er hat sich das Leben genommen.«
»Er hat sich das …« Ihre Stimme erstarb. »Er hat
was
?«
»Ich fürchte, ja.«
Er
fürchtete
? Er fürchtete was? Wovor zum Teufel musste dieser Kerl sich fürchten? Sie war die Einzige, die seit gottverdammten achtzehn Jahren in ständiger Furcht lebte.
Ihr Hirn zerlegte die dummen Worte des Mannes in ihre Einzelteile, damit sie sich nicht mit dem auseinandersetzen musste, was er tatsächlich gesagt hatte und was das für sie bedeutete.
Oh Gott. Seit so langer Zeit war der Hauptzweck ihrer Existenz gewesen, Howard davon abzuhalten, genau das zu tun.
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