Flammen über Arcadion
das naive Templerjugendmädchen, das ordentlich in Reih und Glied einem aalglatten Speichellecker wie Ramin hinterherlief. Ihr Reifeprozess mochte schmerzhafter gewesen sein, als Jonan es irgendjemandem wünschen würde, doch das Erwachen aus ihrer Traumwelt hatte ihr eine neue Tiefe verliehen. Ein Glanz umgab sie, der nicht nur der sinkenden Abendsonne geschuldet war, die ihr langes, offenes Haar beschien. Und in ihren Augen glaubte er Gefühle sehen zu können, die über flüchtige Schwärmerei hinausgingen und die ganz sicher nicht mehr Ramin galten.
Als habe sie seinen Gedanken gehört, schaute sie plötzlich zu ihm herüber. Und einmal mehr verspürte Jonan ein Kribbeln, als sich ihre Blicke kreuzten. Doch diesmal senkte sie nicht den Kopf, sondern hielt den Blick ein wenig länger, als sie es getan hätte, wenn er mit seinen Vermutungen völlig falsch gelegen hätte. Sie sprach kein Wort, aber ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen.
Jonan erwiderte es. Er wünschte sich, Pitlit möge in diesem Augenblick einfallen, dass er dringend noch etwas zu erledigen hätte. Leider tat ihm der Straßenjunge, der von dem Blickwechsel zwischen Carya und Jonan offenbar nichts mitbekommen hatte, nicht den Gefallen.
Stattdessen rieb er sich den Bauch und streckte die Beine von sich. »Also«, sagte er, »wie geht es jetzt weiter? Bleiben wir hier und genießen das schöne Leben, solange diese Leute Carya noch anbeten? Ziehen wir weiter zu diesen anderen Freunden von dir?« Er nickte Carya zu. »Oder gehen wir den Koordinaten nach, die ihr in der Kapsel gefunden habt?« Er deutete auf den Zettel, auf dem sich eine Zahlenkolonne befand, die Carya aufgeschrieben hatte, nachdem sie sich von Nessuno Schreibzeug besorgt hatte. Die Kapsel hatten sie danach wieder von ihrem Blut gesäubert.
»Ich denke, Carya muss diese Wahl treffen«, erwiderte Jonan. »Egal, wofür wir uns entscheiden, sie wird davon am stärksten betroffen sein.«
»Ich bin mir unschlüssig«, gestand Carya. »Natürlich möchte ich der Spur in meine Vergangenheit folgen, die sich mit diesen Koordinaten aus der Kapsel fortsetzt. Aber ich will auch meine Mutter und meinen Vater aus den Klauen der Inquisition befreien. Dazu brauche ich Hilfe. Finde ich sie hier? Finde ich sie im Norden? Oder wäre es nicht wirklich die beste Vorgehensweise, nach Arcadion zurückzukehren und den Kampf da aufzunehmen, wo die Ascherose ihn aufgegeben hat? Ich weiß es einfach nicht.«
»Deine Vergangenheit läuft dir nicht weg«, gab Jonan zu bedenken. »Die Kapsel hat zehn Jahre hier auf dich gewartet. Und dieser Ort, zu dem die Koordinaten führen, wird auch noch existieren, wenn wir in einem halben Jahr dorthin aufbrechen sollten. Sofern er nicht schon im Laufe des letzten Jahrzehnts von der Landkarte verschwunden ist. Das kann genauso sein.«
»Also, ich würde noch ein paar Wochen ins Land ziehen lassen, bevor wir nach Arcadion zurückgehen«, verkündete Pitlit. »Wenn ihr mich fragt, ist das Pflaster dort verdammt heiß. Im Moment hält doch jeder Mann der Stadtwache auf der Straße nach euch Ausschau. Wir sollten wenigstens warten, bis die elenden Steckbriefe abgehängt wurden.«
Carya sah zweifelnd in die Runde. »Bleibt meinen Eltern so viel Zeit?«
Jonan schürzte gedankenvoll die Lippen. »Wenn ich die Inquisition richtig einschätze, ja. Du bist für sie das interessantere Ziel. Deine Eltern wurden doch nur festgenommen, um eine harte Hand zu beweisen. Solange du auf freiem Fuß bist, Carya, nutzen deine Eltern Aidalon lebendig mehr als tot, denn er kann sie als Druckmittel gegen dich verwenden, sollte er eine Möglichkeit sehen, Kontakt zu dir aufzunehmen.«
»Und wenn er glauben muss, dass ich nie mehr nach Arcadion zurückkehre? Würde er sie dann nicht umbringen lassen, sei es aus Prinzip oder aus Bosheit?«
»Diese Gefahr besteht«, musste Jonan zugeben. »Das Problem ist, dass wir keine Verbindung mehr nach Arcadion haben. Wir wissen nicht, was dort geschieht.«
»Wenn wir im Verborgenen bleiben und zugleich Berichte aus der Stadt haben wollen, müssen wir ins Ödland zurück«, sagte Pitlit. »Dort kann man Wissen genauso kaufen wie alles andere. Und wir könnten schnell handeln, wenn wir müssten.«
Jonan war von dem Vorschlag alles andere als begeistert. »Das Ödland ist so etwa der gefährlichste Ort, an dem wir uns gegenwärtig aufhalten können. Denn im Gegensatz zu den Mutanten sind die Gangs dort mit Recht zu fürchten. Die machen auch
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