Flammen über Arcadion
tot.
Carya spürte, wie ihr Magen rebellierte. Sie rutschte aus dem Sessel, sank auf die Knie und kroch hastig und alles andere als damenhaft in eine dunkle Ecke des Separees. Die Augen geschlossen und die Stirn gegen die kalte Wand gepresst, atmete sie ein paarmal stoßweise ein und aus. Ich stehe das durch , sagte sie sich. Ich schaffe es. Tatsächlich gelang es ihr, die Übelkeit hinunterzuzwingen.
»Wachen!«, rief der Wortführer der Inquisitoren. »Bringt ihn weg und holt den nächsten Angeklagten herein.«
Eine klamme Hand legte sich auf Caryas Schulter. »Geht’s?«, fragte Rajael leise hinter ihr. Auch sie klang ziemlich elend.
Carya nickte stumm und stand auf.
Sie sah, dass sich aus den Schatten rund um den Eingang der Richtkammer zwei Gestalten in massigen, nachtschwarzen Vollrüstungen gelöst hatten. Stampfend marschierten sie zum Richtblock hinüber, wo der Maskierte den toten Mann losschnallte. Ohne sichtliche Mühe hoben die Soldaten die Leiche hoch und trugen sie zwischen sich zum Ausgang des Raums. Der Körper des Mannes, der bis dahin hinter dem Sichtschirm verborgen gewesen war, glich einem blutigen Schlachtfeld. Carya konnte und wollte sich nicht vorstellen, wie lange und wie grausam er gefoltert worden war. Dass er bis zuletzt seine Geheimnisse bewahrt hatte, machte ihn zum tapfersten Mann, den sie je getroffen hatte.
Der oberste Richter schlug mit einem Hammer auf ein Holzbrett und verkündete eine zehnminütige Pause. Während die fünf Inquisitoren den Raum verließen und auch der Maskierte sich zurückzog, huschten einige Gerichtsdiener herein und begannen, den Richtblock aufzuräumen und zu säubern.
In den Separees auf der gegenüberliegenden Raumseite glaubte Carya schemenhafte Bewegungen wahrzunehmen. Türen wurden geöffnet, und die Silhouetten von Männern und Frauen traten nach draußen in den Gang. Vermutlich brauchte der eine oder andere Gast jetzt erstmal einen Schnaps, um die flatternden Nerven zu beruhigen. Oder nahmen alle Gäste das schreckliche Spektakel genauso gelassen hin wie die Richter? Carya wollte das einfach nicht glauben. Andererseits konnte sie sich auch nicht vorstellen, wer seine Abende überhaupt freiwillig damit verbrachte, sich derartige Grausamkeiten anzuschauen. Wie krank mussten diese Leute sein?
Carya blickte zu Rajael, die neben ihr stand. Das Gesicht der Freundin wirkte selbst im Halbdunkel kreidebleich. Aus einem plötzlichen Bedürfnis heraus schlang sie ihre Arme um sie, und Rajael erwiderte die Umarmung. »Wie können Menschen anderen Menschen nur so etwas antun?«, flüsterte Carya. »Man fühlt sich in die finsterste Zeit der Dunklen Jahre versetzt.«
»Ich weiß«, hauchte Rajael ihr ins Ohr. Ein Zittern durchlief ihren zierlichen Körper.
»Kanntest du den Mann dort unten?«, fragte Carya.
Sie spürte, wie Rajael an ihrer Schulter den Kopf schüttelte. »Nein. Nur vom Namen her. Er gehörte zu den Wissenschaftlern, die das Brutlabor betrieben haben. Aber ich weiß nicht, welche Aufgabe er hatte.«
Sie lösten sich wieder voneinander und nahmen erneut ihre Plätze ein. Carya blickte hinunter in die Richtkammer, wo die Gerichtsdiener die Säuberungsarbeiten schon beinahe abgeschlossen hatten. Sie gingen mit einer zielstrebigen Routine vor, als wären sie tagein, tagaus mit nichts anderem beschäftigt. »Meinst du, Tobyn ist der Nächste?«
Wortlos schaute Rajael auf ihre schmale Armbanduhr. Sie nickte. Erneut lief ein Zittern durch ihren Körper. Während Carya ihren schlimmsten Moment bereits durchlitten zu haben schien, wuchs die Anspannung ihrer Freundin immer weiter an.
Ein Gongschlag hallte durch die Richtkammer und zog die Gäste aus dem Korridor zurück in ihre Separees. Auch die fünf Inquisitoren tauchten wieder auf und nahmen Platz. Carya musterte den Mann in der Mitte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn kannte. Sie hatte Abbildungen von ihm in der Zeitung gesehen. Es handelte sich um Großinquisitor Aidalon, den obersten Ankläger und Richter des Tribunalpalasts. Wenn Aidalon persönlich die Untersuchungen führte, musste diesen Prozessen mehr Bedeutung zukommen, als sie gedacht hatte.
Im Eingangsbereich tauchten die beiden gepanzerten Wachen wieder auf. Sie hatten einen jungen Mann zwischen sich genommen. Er trug Ketten, und als er den Lichtkegel, der den Richtblock erhellte, erreichte, war auf seinem schmalen, bleichen Gesicht, das von halblangem Haar umrahmt war, offene Angst zu erkennen.
Ein Gerichtsdiener trat vor
Weitere Kostenlose Bücher