Flammen über Arcadion
Vormittag auch ich noch , dachte Carya. »Was wird nun aus Jonan und mir?«, fragte sie. »Dürfen wir im Augenblick hierbleiben?«
»Natürlich.« Ihr Onkel nickte. »Das ist das Mindeste, was wir für euch tun können.«
Jonan erhob sich. »In dem Fall würde ich mir gerne ein wenig die Umgebung ansehen, wenn das in Ordnung ist. Man muss wissen, wo die eigenen Fluchtwege liegen.«
»Denk dran: zweimal kurz und danach erneut zweimal kurz klopfen«, erinnerte Carya ihn.
»Das kriege ich hin«, gab Jonan mit schiefem Grinsen zurück.
»Warten Sie«, sagte Giac. Er zog seinen Schlüssel hervor. »Hier. Nehmen Sie den mit. Ihr braucht ohnehin einen, damit ihr nicht eingeschlossen seid, wenn ich gehe.«
»Danke«, erwiderte Jonan.
Als er verschwunden war, saßen Carya und ihr Onkel schweigend nebeneinander. Durch einen kleinen vergitterten Luftschacht war der Klang einer Glocke zu hören, die die Studenten zur nächsten Unterrichtseinheit rief. »Musst du … musst du nicht auch zur Arbeit?«, wollte Carya stockend wissen.
»Nein, ich habe mich krank gemeldet«, verriet ihr Onkel. »Ich wollte dich auf keinen Fall verpassen, solltest du zu mir kommen.« Er sah Carya eindringlich an. »Wenn es noch irgendetwas gibt, das ich für dich tun kann, Carya … «
Bei diesen Worten kam ihr ein Gedanke. »Ja, das könntest du tatsächlich.« Sie erzählte ihm von dem Beutel mit Rajaels Sachen, den sie in der Straße vor ihrem Haus versteckt hatte. »Könntest du den für mich holen? Ich selbst sollte der Gegend wohl besser fernbleiben.«
»So gut wie erledigt!«, versprach Giac und stand auf. Er schien erleichtert zu sein, eine Aufgabe zu haben, die nicht seine Möglichkeiten überstieg.
Er hatte die Tür beinahe erreicht, als Carya noch etwas einfiel. »Warte, Giac.« Sie nestelte die Kette mit dem seltsamen Silberanhänger hervor und hielt ihm das Kleinod hin. »Kannst du mir zufällig sagen, was das ist? Meine Mutter hat mir den Anhänger gestern Nacht völlig unerwartet gegeben. Sie behauptete, er gehöre mir.«
Giac verharrte in der Bewegung. In seinem Gesicht arbeitete es, und seine Hand schien sich unwillkürlich um die Türklinke zu verkrampfen. Er bemerkte es und ließ rasch los. »Auch das noch«, murmelte er.
Stirnrunzelnd schaute Carya zu ihm auf. »Was soll das heißen? Du kennst ihn?«
Ihr Onkel fuhr sich mit der Hand über den Kopf und räusperte sich unbehaglich. Man konnte den Eindruck gewinnen, er versuche aus der Angelegenheit irgendwie elegant herauszukommen. Aber offenbar fiel ihm kein Weg ein, denn er kehrte zu Carya zurück und setzte sich wieder neben sie. »Carya, hör zu. Es wäre das Beste für dich, wenn du das Ding da im Moment einfach vergisst. Warte, bis wir deine Eltern befreit haben, dann kannst du deine Mutter selbst dazu befragen.«
Verwirrt schüttelte Carya den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Was soll diese Heimlichtuerei? Was ist das für ein Gegenstand? Wenn du es weißt, sag es mir bitte, Onkel Giac.«
Ihr Onkel verzog gequält das Gesicht. »Ich bezweifle, dass ich das darf, cara Carya. Das ist wirklich eine Sache zwischen dir und deinen Eltern.«
»Aber meine Mutter hat mir das Amulett doch nicht ohne Grund in genau der Nacht vermacht, als sie ihre Festnahme befürchten musste!«, beharrte Carya. »Sie muss gewusst haben, dass ich versuchen würde, etwas darüber herauszufinden. Und wer außer dir könnte mir sonst etwas dazu sagen?«
Giac seufzte tief. »Also schön, warte kurz.« Er füllte sich ein Glas mit Rotwein und leerte es in einem Zug. »Kein Grappa, aber es muss reichen. Carya, was ich dir jetzt enthüllen werde, mag für dich ein Schock sein, aber ich bezweifle, dass es eine schonende Art gibt, einem Kind dies mitzuteilen.«
Carya spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in ihren Eingeweiden breitmachte. »Jetzt rede schon, Onkel Giac!«
»Ich versuche es ja, immer mit der Ruhe. Und weil es dich so drängt, will ich eine lange Geschichte kurz machen: Carya, Edoardo und Andetta Diodato sind nicht deine echten Eltern.«
Die Worte trafen Carya wie einer der niedrig hängenden Holzbalken der zeltartigen Marktstände, unter denen sie als junges Mädchen immer hindurchgerannt war. Benommen blinzelnd sah sie Giac an. »Wie … wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage. Du bist nicht die Tochter der beiden Menschen, die du bislang für deine Eltern gehalten hast.«
»Aber … aber wessen Tochter bin ich dann?«
»Das wissen wir nicht. Wir, also genau genommen
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