Flammenbraut
Wochen beim Ladebahnsteig herumlungern sehen, aber er konnte sich nicht auf einen genauen Tag festlegen.«
Walter nickte. Sie gingen langsam um die Schaufenster herum, als sie auf den Public Square zusteuerten.
James fasste zusammen, was er von den Drogisten erfahren hatte. »Beide haben bestätigt, dass mindestens eine der Tabletten ein Vitamin ist. Ich weiß, dass die Leute heutzutage verrückt nach Vitaminen sind …«
»Quacksalberei. Mein Großvater ist fünfundneunzig geworden und hat in seinem ganzen Leben keine einzige Tablette genommen.«
»… aber das hat mich ins Grübeln gebracht. Erinnerst du dich an die Herumtreiberin?«
Walter stieß die dünne Glastür zur Euclid Avenue auf und verzog nachdenklich das Gesicht.
»Und erinnerst du dich, wo sie uns mit hingenommen hat?«
Walter steckte die Zigarre in seine Brusttasche. »Ja.«
»Ich denke, wir sollten dem guten Doktor noch einen Besuch abstatten«, schlug James vor. »Nachdem du ja jetzt zu Mittag gegessen hast und so.«
21
Donnerstag, 9. September
Der Obduktionssaal in dem sechzig Jahre alten Gebäude der Gerichtsmedizin war so eingerichtet, dass man ihn leicht säubern konnte. Waschbecken und Arbeitsflächen aus rostfreiem Stahl, ein Abfluss und Keramikfliesen auf dem ganzen Boden und an der unteren Hälfte der Wände ermöglichten es, den Saal Abend für Abend, Jahr für Jahr fein säuberlich zu reinigen und alle Gräuel des Tages vergessen zu lassen. Jeden Abend schien er der sauberste Raum im ganzen Gebäude zu sein, auch wenn er nicht steril war. Die Opfer konnten sich nicht länger mit Keimen infizieren, über die sich die Angestellten genauso wenig Sorgen machten. Jahrelang hatten sie schon mit Formalin und Röntgenstrahlen gearbeitet, waren den Innereien von Opfern mit Tuberkulose, HIV , Hepatitis (A, B, C) und gelegentlicher Meningitis ausgesetzt gewesen und bisher immer noch gesund. Wie der Rest der Menschheit rauchten sie, fuhren Motorrad, aßen fettes Essen – alles umgeben vom Tod. Je vertrauter man mit etwas ist, desto harmloser erscheint es einem.
Die zwei kopflosen Leichen waren bei Weitem nicht die verstörendsten oder seltsamsten Todesfälle, die die Ärzte und Assistenten je gesehen hatten, weshalb sie mit den Baseball-Ergebnissen um Aufmerksamkeit konkurrieren mussten. Die Indians waren an dritter Stelle in der Central Division, mit ungefähr gleich vielen Siegen und Niederlagen. Ein Pathologe und zwei Assistenten dachten, dass das Team im letzten Jahr einige gute Trades gemacht hatte und sich bestimmt einen Platz in den World Series sichern würde, vielleicht nicht gewinnen würde, aber zumindest teilnehmen könnte. Ein anderer Pathologe, zwei Assistenten und ein Empfangsmitarbeiter rechneten ihnen allerdings keine Chancen aus. Sie hatten das schon zu oft mitgemacht. Christine Johnson enthielt sich einer Meinung, da das Scharfschießen die einzige Sportart war, die sie interessierte.
Vor ihr lag die Leiche des älteren Mannes, der Kopf an der Stelle, an der er normalerweise hätte sitzen sollen. Christine hatte alle äußeren Auffälligkeiten verzeichnet – Verletzungen (ein Kratzer am rechten Handgelenk, ein verheilter Schnitt am linken Zeigefinger sowie natürlich die Verletzungen an Hals und Leiste), alte Narben (Blinddarm), Muttermale (zwei große sowie diverse kleinere, die sie nicht aufschrieb), Tätowierungen (keine). Sie sah weder Einstichstellen noch Abszesse an den Armen, die auf Drogenmissbrauch hingedeutet hätten, keine Schwellungen an Brust oder Bauch, die auf ein Trauma, Tumore oder Leistenbrüche hätten hindeuten können. Die Leiche zeigte bisher noch wenig Anzeichen der Verwesung. Der Todeszeitpunkt lag ihrer Einschätzung nach etwa vierundzwanzig Stunden zurück, doch sie entnahm dennoch Flüssigkeit aus einem Augapfel, um diese Zeitangabe anhand des Kaliumgehaltes im Glaskörper, der nach dem Tod ansteigt, genauer bestimmen zu können.
Christines Assistent bei dieser Autopsie war ein junger Mann namens Damon, und während sie noch die letzten Notizen vor der Obduktion zu den inneren Organen machte, nahm er ein Skalpell zur Hand und setzte den Y-Schnitt von den Schultern des Mannes bis zu seinem Bauchnabel, ohne auf ihre Anweisungen zu warten. In der Gerichtsmedizin standen die Ärzte – wie überall sonst auch in der Gesellschaft – ganz oben in der Hierarchie und verfügten über den höchsten Status, Einfluss und Macht. Damon fühlte sich dazu verpflichtet, diese Halbgötter auf den Boden der
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