Flammenbrut
haben, aber im Grunde interessierte sie sich nur für einen. Sie fand ihn in der Mitte des Stapels.
«Die Kinder des Prometheus: Fallstudien über Pyromanen.»
Das war der letzte Eintrag, den sie sich vor Monaten angesehen hatte, als sie Alex Turners Referenzen überprüfte. Damals hatte
sie nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen, aber der Titel war offensichtlich hängengeblieben. Jedenfalls die Tatsache,
dass es dabei um Pyromanie ging. Sie wusste nicht, was sie dem Artikel zu entnehmen hoffte, wenn er ihr überhaupt etwas sagen
würde. Aber Pyromanie war eine zwanghafte Hinwendung zum Feuer. Und Inspector Collins hatte Timothy Ellis einen Brandstifter
genannt.
Kate begann zu lesen. Der Text war ziemlich zäh, und sie überflog zahlreiche Absätze, bis sie zu den für sie relevanten Stellen
kam. Der Artikel definierte Pyromanie als «Fehlregulierung der Impulskontrolle», als unwiderstehlichen Impuls, Feuer zu legen,
und als Faszination, sie brennen zu sehen. Die meisten Brandstifter, so der Artikel weiter, entstammten schwierigen sozialen
Verhältnissen und litten unter dem Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit. Es folgten vier Fallstudien.
|259| Kate übersprang die ersten beiden nach einem kurzen Blick, aber die nächste erregte sofort ihre Aufmerksamkeit. Es wurden
keine Namen genannt, der junge Mann, um des es ging, wurde lediglich als «C» bezeichnet. Er kam aus einer Familie der Mittelklasse,
die Familienverhältnisse wurden als dysfunktional und gewalttätig beschrieben.
… Als Jüngster und damit Rangniederster in der Familienhierarchie war C oft das Opfer von Quälereien seitens seiner Brüder.
Als C fünf Jahre alt war, hielt ihm einer seiner Brüder die Finger in eine Gasflamme. Das stimmt mit der Beobachtung von Jackson
(1994) überein, dass einige Brandstifter irgendwann selbst Opfer von Verbrennungen waren. Zwar lässt sich nicht sagen, ob
diese Erfahrung die direkte Ursache für C.s spätere Besessenheit vom Feuer war, aber auf jeden Fall führte das Trauma zu einer
sprachlichen Behinderung in der Form schweren Stotterns, was seine Isolation und sein Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit
verstärkte.
Kate las den Abschnitt noch einmal. Dann rieb sie sich die Augen und fuhr fort.
… C kam zum ersten Mal mit der Polizei in Berührung, als er im Alter von zehn Jahren in einem Park seiner Nachbarschaft einen
Schuppen niederbrannte, was die Anordnung einer psychologischen Untersuchung zur Folge hatte. Es folgte eine Phase relativer
Stabilität, die mit C.s Aufenthalt bei der Großmutter väterlicherseits zusammenfiel – sein Vater saß in dieser Zeit eine Haftstrafe
wegen Betrugs ab.
Nach seiner Rückkehr ins Elternhaus nahm er die Brandstiftungen |260| jedoch wieder auf. Mit vierzehn zündete er ein Nebengebäude der Schule an und wurde daraufhin in psychiatrische Behandlung
überstellt. Obwohl in deren Verlauf Symptome einer Schizophrenie festgestellt wurden, wurde C.s Pyromanie in erster Linie
als pathologisches Problem angesehen, das aus dem unbewussten Verlangen erwächst, sich selbst von negativen Emotionen zu reinigen.
Das resultierte häufig im Anstecken von Objekten, die für ihn mit solchen negativen Emotionen verknüpft waren (im Nebengebäude
der Schule beispielsweise war er einige Tage zuvor von einer Gruppe Mitschüler verprügelt worden). C.s darauffolgende Schuldgefühle
führten allerdings dazu, dass er sich noch mehr in sich selbst zurückzog, und dies wiederum zu einem weiteren Drang, Feuer
zu legen.
Im Anschluss wurde erläutert, dass C.s Schizophrenie anscheinend gut auf Psychopharmaka ansprach und dass die Pyromanie eine
Zeitlang unter Kontrolle schien. Dann kam Kate zu einer Passage, die ihr den Atem stocken ließ.
… Das Schlüsselerlebnis in C.s Krankengeschichte ist vermutlich der Tod seiner Großmutter. Sie starb, als er fünfzehn Jahre
alt war, und zwar kurz nachdem sie eine Auseinandersetzung mit C.s Eltern über seine Versorgung geführt hatte. Am Abend der
Beerdigung seiner Großmutter legte C Feuer im Haus seiner Eltern. Seine Eltern und seine Brüder kamen in den Flammen ums Leben.
Noch heute scheint sich C über die Absichten, die er mit der Brandstiftung verfolgte, nicht im Klaren zu sein. Es ist nicht
auszuschließen, dass er das Feuer legte, ohne über die Folgen dieser Tat überhaupt nachgedacht |261| zu haben. Wie immer wurde C nach der Tat von Schuldgefühlen
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