Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
kratzt am Wundschorf auf ihrer Wange. Saga ist fest entschlossen, das Mädchen dazu zu bringen zu erzählen, was dann geschah. Es braucht nicht viel zu sein, nur ein paar ehrliche Worte über die Flucht durch den Wald und die Entführung des Jungen.
Sie weiß, je mehr ein Vernehmungsleiter dem Verdächtigen über die Ereignisse rund um das Verbrechen entlockt, desto wahrscheinlicher ist es, dass er alles erzählen wird.
»Joona irrt sich eigentlich nie«, sagt Saga und lächelt.
»Es war dunkel, und ich lag im Bett, als alle schrien und die Türen schlugen«, wispert Vicky.
»Du liegst im Bett und alle schreien«, sagt Saga und nickt. »Was denkst du, was machst du dann?«
»Ich habe Angst, das ist das Erste, mein Herz rast und ich liege ganz still unter meiner Decke«, sagt Vicky, ohne irgendwen im Raum anzusehen. »Es ist stockfinster … aber dann spüre ich, dass ich nass bin … ich glaube, dass ich ins Bett gemacht oder meine Tage bekommen habe oder so … Buster bellt und Nina schreit etwas über Miranda und ich mache das Licht an und sehe, dass ich überall voller Blut bin.«
Saga zwingt sich, nicht nach dem Blut und den Morden zu fragen, kein Geständnis erzwingen zu wollen, stattdessen einfach dem Assoziationsstrom zu folgen.
»Schreist du auch?«, fragt sie neutral.
»Ich glaube nicht, ich weiß es nicht, ich konnte nicht denken«, fährt Vicky fort. »Ich wollte da bloß weg, verschwinden … Ich schlafe in meinen Kleidern … das habe ich immer getan … also nehme ich nur meine Tasche, ziehe die Schuhe an, klettere aus dem Fenster und gehe in den Wald … ich habe Angst und gehe, so schnell ich kann, und der Himmel wird heller und ein paar Stunden später fällt es leichter, zwischen den Bäumen etwas zu sehen. Ich laufe einfach weiter und sehe plötzlich ein Auto … es ist fast neu, aber einfach stehen gelassen worden, und die Tür steht offen und die Schlüssel stecken … Ich kann fahren, habe einen ganzen Sommer lang geübt … und so stolpere ich einfach in den Wagen und fahre los … Und dann merke ich, wie unheimlich müde ich bin, meine Beine zittern … Ich denke, dass ich nach Stockholm fahren und versuchen werde, an Geld zu kommen, damit ich zu einer Freundin in Chile fahren kann … Plötzlich gibt es einen Knall im Auto, es dreht sich und schlägt mit der Seite gegen etwas … peng, und dann ist es still … Ich wache auf, blute am Ohr und schaue hoch und überall sind kleine Glasstücke, ich bin gegen eine verdammte Ampel gefahren, ich kapiere nicht, wie das passieren konnte, alle Fenster sind weg. Es regnet direkt in dasAuto hinein … der Motor läuft noch und ich lebe … meine Hand bewegt sich zum Schaltknüppel, und ich setze zurück und fahre weiter … Regen weht mir ins Gesicht, und dann höre ich jemanden weinen, drehe mich um und sehe, dass da in dem Kindersitz auf der Rückbank ein kleiner Junge sitzt. Das ist total krank, ich kapiere nicht, wie er dahin gekommen ist … Ich schnauze ihn an, dass er still sein soll. Es gießt in Strömen. Man kann fast nichts sehen, aber als ich gerade abgebogen bin, um auf die Brücke zu fahren, sehe ich die Blaulichter am anderen Ufer … Ich gerate ein bisschen in Panik und drehe am Lenkrad, und wir fahren von der Straße ab. Das geht zu schnell, geradewegs eine Uferböschung hinunter, ich bremse, rolle aber trotzdem ins Wasser und schlage mit dem Gesicht gegen das Lenkrad. Das Wasser schlägt über die Motorhaube und ins Auto und wir rutschen einfach in den Fluss, als wäre es nichts … Es wird dunkel, wir sinken, aber unter der Decke gibt es noch Luft, und ich klettere nach hinten zu dem Jungen, mache den Gurt auf und reiße den ganzen Kindersitz mit durch die Windschutzscheibe, wir sind schon tief im Wasser, aber der Sitz schwimmt und zieht uns an die Oberfläche, wir treiben ein Stück mit dem Fluss und schaffen es auf die andere Seite … wir sind klatschnass, meine Tasche und meine Schuhe sind weg, aber wir gehen los …«
Vicky verstummt, um Luft zu holen. Saga erahnt eine Bewegung der Staatsanwältin, aber ihr Blick bleibt auf Vicky gerichtet.
»Ich habe Dante erzählt, dass wir seine Mama finden würden«, fährt Vicky mit bebender Stimme fort. »Ich habe ihn an der Hand gehalten, und wir sind gegangen und gegangen und haben ein Lied aus seinem Kindergarten gesungen, über einen alten Mann, der seine Schuhe verschlissen hat. Wir folgten einer großen Straße mit Masten an der
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