Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
schlecht nach Mamas Parfüm roch und weil Super Mario aufgefressen wurde.
Es sind noch mindestens zwanzig Kilometer bis Sundsvall und danach weitere vierhundertsechzig bis Stockholm.
Pia Abrahamsson muss mittlerweile wirklich dringend auf die Toilette – bei der Versammlung hat sie eindeutig zu viel Kaffee getrunken.
Es muss unbedingt bald eine offene Tankstelle kommen.
Sie sagt sich, dass sie nicht mitten im Wald stehen bleiben sollte.
Das sollte sie nicht, aber sie wird es trotzdem tun.
Pia Abrahamsson, die jeden Sonntag predigt, dass alles, was geschieht, einen tieferen Sinn hat, wird in wenigen Minuten Opfer des blinden, teilnahmslosen Zufalls werden.
Sachte fährt sie auf Höhe eines Forstwirtschaftswegs rechts heran und hält an einem abgeschlossenen Schlagbaum, der die Durchfahrt zwischen den Wildzäunen absperrt. Hinter diesem führt der Feldweg bis zu einem Lagerplatz für Holzstämme schnurgerade in den Wald hinein.
Sie denkt, dass sie die Autotür offen lassen und nur so weit gehen wird, dass man sie von der Straße aus nicht mehr sehen kann, damit sie es hört, falls Dante aufwachen sollte.
»Mama?«
»Versuch, noch ein bisschen zu schlafen, kleiner Mann.«
»Mama, du darfst nicht weggehen.«
»Mausebär«, sagt Pia. »Ich muss nur kurz Pipi machen. Ich lasse die Tür offen. Ich kann dich die ganze Zeit sehen.«
Er schaut sie mit schlaftrunkenen Augen an.
»Ich will nicht allein sein«, flüstert er.
Sie lächelt ihn an und streichelt seine verschwitzten Wangen. Sie weiß, dass sie ihn zu sehr behütet, ihn zu einem kleinen Muttersöhnchen erzieht, kann aber einfach nicht anders.
»Nur einen klitzeklitzekleinen Moment«, sagt sie heiter.
Dante hält ihre Hand fest und versucht zu verhindern, dass sie geht, aber sie macht sich frei und nimmt ein feuchtes Tuch aus dem Behälter.
Pia verlässt den Wagen, bückt sich unter dem Schlagbaum hindurch und geht den Waldweg hinunter, dreht sich um und winkt Dante zu.
Was wäre, wenn jetzt jemand vorbeikäme und mit seinem Handy ihren nackten Hintern filmen würde?
Die Bilder der pinkelnden Pfarrerin würden auf Youtube, Facebook, Flashback Forum und in Blogs und Chatforen kursieren.
Sie fröstelt, verlässt den Kiesweg und geht noch etwas weiter zwischen die Bäume. Schwere forstwirtschaftliche Maschinen, Holzvollernter und Scooter haben das Gelände umgepflügt.
Als sie sicher ist, dass man sie von der Straße nicht mehr sehen kann, zieht sie den Slip herunter, steigt aus ihm heraus, macht einen Schritt zur Seite, hebt den Rock an und geht in die Hocke.
Sie merkt, dass sie müde ist, denn ihre Schenkel zittern, und sie stützt sich mit der Hand auf dem lauen Moos ab, das um die Baumstämme wächst.
Erleichterung stellt sich ein, und sie schließt kurz die Augen.
Als sie wieder aufschaut, sieht sie etwas Unbegreifliches. Ein Tier hat sich auf zwei Beine aufgerichtet und geht stolpernd, vorgebeugt auf dem Forstwirtschaftsweg.
Eine schmale Gestalt voller Schmutz, Blut und Matsch.
Pia hält die Luft an.
Das ist kein Tier, es kommt ihr eher vor, als hätte sich ein Teil des Waldes befreit und wäre zum Leben erwacht.
Wie ein kleines, aus Zweigen gemachtes Mädchen.
Das Wesen taumelt, geht aber immer weiter auf den Schlagbaum zu.
Pia richtet sich auf und folgt ihm.
Sie versucht, etwas zu sagen, hat aber keine Stimme.
Unter ihrem Fuß bricht ein Ast.
Im Wald fällt jetzt leichter Regen.
Sie bewegt sich langsam wie in einem Albtraum, es ist, als könnte sie nicht laufen.
Zwischen den Bäumen hindurch sieht sie, dass das Wesen bereits ihr Auto erreicht hat. Um die Hände dieses eigenartigen Mädchens hängen schmutzige Stoffbänder.
Pia stolpert auf den Wirtschaftsweg hinaus und sieht, wie das Wesen ihre Tasche vom Sitz fegt, sich hineinsetzt und die Autotür zuzieht.
»Dante«, keucht sie.
Der Wagen springt mit quietschenden Reifen an, fährt über Handy und Schlüsselbund auf die Landstraße, schabt an der Schutzplanke zur Gegenfahrbahn vorbei, gelangt wieder auf die Fahrbahn und entfernt sich.
Pia läuft wimmernd zum Schlagbaum und zittert am ganzen Leib.
Was gerade geschehen ist, erscheint ihr unfassbar. Dieser Schlamm-Mensch ist aus dem Nichts aufgetaucht, und jetzt sind das Auto und ihr Sohn fort.
Sie schiebt sich unter dem Schlagbaum hindurch und trifft auf die große, leere Straße. Sie schreit nicht, sie kann nicht schreien. Man hört nur ihre keuchenden Atemzüge.
23
WALD FLIMMERT VORBEI und Regentropfen prasseln gegen
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