Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
die große Windschutzscheibe. Der dänische Fernfahrer Mads Jensen sieht bereits aus zweihundert Metern Entfernung, dass mitten auf der Straße eine Frau steht. Er flucht vor sich hin und hupt. Bei dem brüllenden Ton zuckt die Frau zusammen, aber statt Platz zu machen, bleibt sie auf der Straße stehen. Der Fahrer hupt ein zweites Mal, woraufhin die Frau langsam einen Schritt nach vorn macht, das Kinn hebt und den näher kommenden Lastzug betrachtet.
Mads Jensen bremst und spürt das Gewicht des Sattelaufliegers gegen den alten Dolly von Fliegl drücken. Er muss stärker bremsen, die Kraftübertragung funktioniert schlecht, es knackt in der Steuerachse, und der Anhänger bricht ein wenig aus, ehe er das Gefährt zum Stehen bringt.
Die Umdrehungszahl sinkt, und das Grollen der Kolbenbewegungen wird immer dumpfer.
Die Frau steht nur drei Meter von der Motorhaube entfernt. Erst jetzt fällt dem Fernfahrer auf, dass sie unter ihrer Jeansjacke die schwarze Kleidung einer Geistlichen trägt. Das kleine Rechteck des gestärkten weißen Priesterkragens setzt sich leuchtend von ihrem schwarzen Hemd ab.
Das Gesicht der Frau ist offen und eigenartig blass. Als ihre Augen sich durch die Windschutzscheibe begegnen, laufen Tränen über ihre Wangen.
Mads Jensen schaltet die Warnblinklichter ein und steigt ausder Fahrerkabine. Vom Motor gehen große Hitze und Dieselgeruch aus. Als er um den Wagen herumgeht, stützt sich die Frau mit der Hand auf einen Scheinwerfer und atmet stoßweise.
»Was ist los?«, fragt Mads.
Ihr Blick wendet sich ihm zu. Die Augen sind weit aufgerissen. Das gelbe Licht der Warnblinklichter pulsiert auf ihr.
»Brauchen Sie Hilfe?«, fragt er.
Sie nickt, und er versucht, sie um das Auto herumzuführen. Der Regen wird stärker, und der Himmel verdunkelt sich rasch.
»Hat Ihnen jemand etwas angetan?«
Sie leistet ein wenig Widerstand, kommt aber dennoch mit und steigt auf den Beifahrersitz. Er schließt die Tür hinter ihr, eilt zu seiner Seite und setzt sich hinein.
»Ich kann hier nicht stehen bleiben, ich blockiere die ganze Straße«, erklärt er. »Ich muss weiterfahren – ist das in Ordnung?«
Sie antwortet nicht, und er setzt den Lastzug trotzdem in Bewegung und schaltet die Scheibenwischer an.
»Sind Sie verletzt?«, erkundigt er sich.
Sie schüttelt den Kopf und hält sich eine Hand vor den Mund.
»Mein Kind«, flüstert sie. »Mein …«
»Was wollen Sie mir sagen?«, fragt er. »Was ist passiert?«
»Sie hat mein Kind genommen …«
»Ich rufe die Polizei – soll ich das tun? Soll ich die Polizei rufen?«
»Oh Gott«, wimmert sie.
24
DER REGEN TROMMELT gegen die Windschutzscheibe, die Blätter der Scheibenwischer fegen das Wasser rasend schnell fort, und die Fahrbahn vor ihnen scheint förmlich zu kochen.
Pia sitzt in der warmen Fahrerkabine hoch über dem Erdboden und zittert am ganzen Leib. Sie kann sich einfach nicht beruhigen. Ihr ist bewusst, dass sie unzusammenhängende Dinge sagt, hört nun jedoch den Fernfahrer mit der Notrufzentrale sprechen. Er wird angewiesen, weiterhin die Landstraße 86 zu nehmen und danach auf die 330 zu fahren, um sich in Timrå mit einem Einsatzfahrzeug zu treffen, das sie ins Krankenhaus von Sundsvall bringen soll.
»Was ist? Worüber reden Sie da?«, fragt Pia. »Es geht nicht um mich. Sie müssen das Auto stoppen, alles andere ist unwichtig.«
Der dänische Fahrer sieht sie fragend an, und sie weiß, dass sie sich konzentrieren und klar äußern muss. Sie muss ruhig wirken, obwohl sie den Boden unter den Füßen verloren hat, obwohl sie sich im freien Fall befindet.
»Mein Sohn ist gekidnappt worden«, sagt sie.
»Sie sagt, dass ihr Sohn gekidnappt worden ist«, wiederholt der Fernfahrer am Telefon.
»Die Polizei muss das Auto stoppen«, fährt sie fort. »Einen Toyota … einen roten Toyota Auris. Ich habe das Kennzeichen nicht im Kopf, aber …«
Der Fahrer bittet die Frau in der Zentrale zu warten.
»Aber er ist direkt vor uns auf dieser Straße … sie müssen ihnstoppen … mein Sohn ist erst vier, er ist im Auto geblieben, als ich …«
Er gibt ihre Worte weiter, erklärt, dass er mit seinem Lastzug auf der Landstraße 86 in östlicher Richtung fährt und ungefähr vierzig Kilometer von Timrå entfernt ist.
»Sie müssen sich beeilen …«
Der Fernfahrer bremst, passiert eine verbogene Ampel, durchfährt einen Kreisverkehr, wobei der Anhänger donnert, als die Räder über die Bremsschwellen rollen, beschleunigt
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