Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
den Regen und den Schmutz auf der Windschutzscheibe etwas zu erkennen. Auf dem Fahrersitz liegt eine Zeitung ausgebreitet. Der Mann hat beim Fahren auf dem Papier gesessen. Sie geht herum, tritt näher und versucht zu sehen, was auf der engen Rückbank liegt. Eine alte Decke und eine Thermoskanne.
Wieder ertönen Stimmen aus dem Funkgerät, aber die Worte kann sie jetzt nicht mehr verstehen.
Die Jagdweste des Mannes ist auf den Schultern vom Regen bereits dunkelgrün verfärbt. Ein Rasseln kommt von dem Wagen, ein scharrendes Geräusch auf Metall.
Als sie den Blick erneut dem Mann zuwendet, ist er näher gekommen. Ein bisschen nur, ein paar Zentimeter. Vielleicht bildet sie sich das aber auch nur ein. Sie ist sich nicht sicher. Er betrachtet sie, lässt den Blick über ihren Körper schweifen und legt seine fleischige Stirn in Falten.
»Wohnen Sie hier?«, fragt sie.
Mit dem Fuß tritt sie Dreck vom Nummernschild, notiert sich das Kennzeichen und geht weiter um das Auto herum.
»Nein«, antwortet er langsam.
Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz steht eine rosa Sporttasche. Mirja geht um den Wagen herum, behält den hochaufgeschossenen Mann dabei jedoch unablässig im Auge. Auf der Ladefläche liegt etwas unter einer von kräftigen Spannriemen festgehaltenen grünen Plane.
»Wohin fahren Sie?«, fragt sie.
Er steht vollkommen still, seine Augen folgen ihr. Plötzlichläuft unter der Plane in den Rillen, die voller Schmutz und Tannennadeln sind, Blut auf die Ladefläche.
»Was haben Sie hier?«, fragt sie.
Als er nicht antwortet, streckt sie sich über die Heckklappe der Ladefläche. Es ist nicht ganz leicht heranzukommen – sie muss sich gegen das Fahrzeug pressen. Der Mann rückt ein wenig zur Seite. Als sie die Ecke der Plane anhebt, leckt er sich kurz die Lippen. Sie öffnet den Knopf des Pistolenhalfters, wendet anschließend den Blick rasch der Ladefläche zu und sieht den zierlichen Huf eines jungen Rehs, eines Kitzes.
Der Mann steht regungslos im blauen, blinkenden Licht, aber Mirja lässt ihre Hand trotzdem auf der Waffe ruhen, als sie ein paar Schritte von dem Auto zurücktritt.
»Wo haben Sie das Reh geschossen?«
»Es lag auf der Straße«, erklärt er.
»Haben Sie die Stelle markiert?«
Er spuckt bedächtig auf die Erde, zwischen seine Füße.
»Darf ich bitte mal Ihren Führerschein sehen?«, sagt sie.
Er antwortet nicht und macht nicht die geringsten Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen.
»Den Führerschein, bitte«, wiederholt sie, hört jedoch selbst die Unsicherheit in ihrer Stimme.
»Wir sind fertig miteinander«, sagt er und geht zum Auto.
»Für Wildunfälle gilt eine gesetzliche Meldepflicht …«
Der Mann setzt sich auf den Fahrersitz, schließt die Tür, lässt den Wagen an und fährt los. Sie sieht ihn mit zwei Rädern im Straßengraben an ihrem Streifenwagen vorbeirollen. Als er wieder auf die Fahrbahn schwenkt und sich entfernt, denkt Mirja, dass es besser gewesen wäre, das Auto genauer zu untersuchen, die Plane ganz zu entfernen und unter die Decke auf der Rückbank zu schauen.
Der Regen rauscht durch die Blätter, in der Ferne krächzt in einem Baumwipfel eine Krähe.
Als Mirja hinter sich schwere Motorengeräusche hört, zuckt sie zusammen. Sie dreht sich um und zieht die Pistole, sieht aber nichts als Regen.
27
DER DÄNISCHE FERNFAHRER MADS JENSEN muss sich am Telefon eine Standpauke seines Chefs anhören. Sein Hals läuft rot an, und er versucht, die Situation zu erklären. Pia Abrahamsson hört die verärgerte Stimme aus dem Telefon, als der Spediteur weiter irgendetwas über Koordinaten und versaute Logistik schreit.
»Aber«, versucht Mads Jensen, sich Gehör zu verschaffen, »aber man muss anderen Menschen doch helf…«
»Das ziehe ich dir vom Lohn ab«, schnauzt der Vorgesetzte ihn an. »Das ist die Hilfe, die du von mir bekommst.«
»Na, vielen Dank«, sagt Mads und unterbricht die Verbindung.
Pia sitzt schweigend neben dem Fahrer und sieht den Wald an beiden Seiten vorbeiziehen. Der herabprasselnde Regen donnert auf die Fahrerkabine. Im zweigeteilten Seitenspiegel sieht Pia den krängenden Anhänger und die Bäume, die sie soeben hinter sich gelassen haben.
Mads nimmt sich einen Nikotinkaugummi und starrt auf die Straße. Der Motor grollt genauso dumpf wie die schweren Reifen auf der Asphaltdecke.
Sie wirft einen Blick auf den Kalender, den die Bewegungen des Lastzugs pendeln lassen. Eine kurvenreiche Frau, die einen aufblasbaren Schwan im
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