Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
und aus Angst vor Ansteckung wollte ihn kein Krankenhaus aufnehmen. Violets Mann fuhr mit dem Jungen die ganze Nacht von einem Hospital zum nächsten. Als der Morgen dämmerte, starb der Junge in seinen Armen. Von Trauer gebrochen verschied der Vater nur ein Jahr später. In jener schicksalsschweren Nacht erlosch ihr ganzes Glück. Seither hat Violet ihr Dasein als kinderlose Witwe gefristet. Ein halbes Jahrhundert hat sie so gelebt.
»Violet« flüstert Flora.
Die alte Frau richtet ihre feuchten Augen auf Flora.
»Ja?«
»Ein Kind ist gekommen, ein Kind, das einen Mann an der Hand hält.«
»Wie heißen die beiden?«, wispert Violet mit zittriger Stimme.
»Sie heißen … der Junge sagt, du hast ihn immer Jusse genannt.«
Violet stöhnt auf.
»Es ist mein kleiner Jusse«, flüstert sie.
»Und der Mann sagt, dass du weißt, wer er ist, du bist seine Blume.«
Violet nickt und lächelt.
»Das ist mein Albert.«
»Sie haben eine Botschaft für dich, Violet«, fährt Flora ernst fort. »Die beiden sagen, sie folgen dir Tag und Nacht, du bist niemals allein.«
Eine große Träne läuft Violets faltige Wange herab.
»Der Junge bittet dich, nicht traurig zu sein. Mama, sagt er, mir geht es gut. Papa ist immer bei mir.«
»Ich vermisse euch so«, schluchzt Violet.
»Ich sehe den Jungen, er steht direkt neben dir und berührt deine Wange«, flüstert Flora.
Violet weint leise, und es wird wieder still. Flora wartet darauf, dass die Hitze des Teelichtes das Strontiumsalz entzündet, aber noch ist es nicht so weit.
Sie murmelt vor sich hin und überlegt, wen sie als Nächsten auswählen soll. Sie schließt die Augen und wiegt sachte den Oberkörper vor und zurück.
»Es sind so viele hier …«, murmelt sie. »Es sind so viele hier … Sie drängeln sich in der schmalen Pforte, ich spüre ihre Gegenwart, sie sehnen sich nach euch, sie sehnen sich danach, mit euch zu sprechen …«
Sie verstummt, als eine der Kerzen auf dem Tablett knistert.
»Streitet euch nicht an der Pforte«, murmelt sie.
Die knisternde Kerze brennt plötzlich mit leuchtend roter Flamme, und jemand aus der Gruppe schreit auf.
»Du bist nicht eingeladen, du bleibst draußen«, sagt Flora entschieden und wartet, bis das rote Feuer verschwindet. »Jetzt möchte ich mit dem Mann mit Brille sprechen«, murmelt sie. »Ja, komm näher. Wie ist dein Name?«
Sie lauscht in sich hinein.
»Du möchtest dasselbe wie immer haben«, sagt Flora und wendet sich anschließend ihren Gästen zu. »Er sagt, dass er dasselbe wie immer haben möchte. Es soll das Übliche geben, Haselhühnchen mit Salzkartoffeln und …«
»Das ist mein Stig!«, platzt die Frau neben Flora heraus.
»Es ist schwer zu verstehen, was er sagt«, fährt Flora fort. »Es sind so viele hier, sie unterbrechen ihn …«
»Stig«, wispert die Frau.
»Er sagt, verzeih … er möchte, dass Sie ihm verzeihen.«
Durch die Hände, die einander halten, spürt Flora das Beben der alten Frau.
»Ich habe dir verziehen«, flüstert die alte Frau.
36
NACH DER SÉANCE verabschiedet sich Flora zurückhaltend. Sie weiß, dass die Leute mit ihren Fantasien und Erinnerungen lieber allein sein möchten. Langsam geht sie in dem Raum umher, pustet die Teelichte aus und stellt die Stühle an ihre Plätze zurück. In ihrem Inneren hält sich noch eine lustvolle Freude darüber, dass alles so gut gelaufen ist.
Im Eingangsbereich hat sie ein Kästchen aufgestellt, in das ihre Gäste das Eintrittsgeld gelegt haben. Sie zählt es und muss feststellen, dass es nicht reichen wird, um zurückzuzahlen, was sie sich aus Ewas Umschlag geborgt hat. In einer Woche wird sie einen weiteren spiritistischen Abend veranstalten, der ihre letzte Chance sein wird, das Geld zusammenzukratzen, ohne ertappt zu werden.
Sie hat in Phänomen annonciert, aber es sind trotzdem nur wenige Teilnehmer gekommen. Nachts wacht sie immer öfter auf, starrt mit trockenen Augen in die Dunkelheit und fragt sich, was sie nur tun soll. Zum Monatswechsel bezahlt Ewa die laufenden Rechnungen. Dann wird sie merken, dass in dem Umschlag Geld fehlt.
Als sie auf die Straße hinaustritt, regnet es nicht mehr. Der Himmel ist schwarz. Auf dem nassen Asphalt glänzt das Licht von Straßenlaternen und Neonreklamen. Flora schließt die Tür ab und lässt den Schlüssel in den Briefkasten von Antiquitäten Carlén fallen.
Als sie das Pappschild herunternimmt und in ihre Tasche steckt, sieht sie, dass im Eingang des Nachbarhauses
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