Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
dass ihre Fingernägel gepflegt und rot lackiert sind.
»Setzen Sie sich«, sagt sie ruhig.
Joona nimmt ihr gegenüber auf einem großen Fußhocker Platz. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, sieht er, dass mit ihrem Gesicht irgendetwas nicht stimmt.
»Was wollen Sie wissen?«
»Sie haben Familie Arnander-Johansson besucht.«
»Ja.«
»Was war Ihr Anliegen?«
»Ich habe sie gewarnt.«
»Wovor haben Sie die Familie gewarnt?«
»Tompa!«, ruft die Frau. »Tompa!«
Eine Tür wird geöffnet, und man hört langsame Schritte. Joona sieht den Jungen in der Dunkelheit nicht, spürt jedoch seine Anwesenheit und erahnt seine Silhouette vor dem Bücherregal. Der Junge betritt das dunkle Wohnzimmer.
»Mach das große Licht an.«
»Aber Mama …«
»Tu es einfach!«
Er drückt auf den Lichtschalter, und ein großer Ball aus Reispapier erhellt den ganzen Raum. Der große, hagere Junge steht mit gesenktem Kopf im hellen Licht. Joona betrachtet ihn. Das Gesicht des Jungen sieht aus, als wäre es von einem Kampfhund zerfleischt worden und anschließend völlig falsch verheilt. Die Unterlippe fehlt ganz, man sieht die Zahnreihe, Kinn und rechte Wange sind ausgehöhlt und fleischfarben. Eine tiefe rote Furche verläuft vom Haaransatz aus schräg über die Stirn und durch die Augenbraue. Als Joona sich der Frau zuwendet, sieht er, dassihr Gesicht noch entstellter ist. Trotzdem lächelt sie ihn an. Ihr rechtes Auge fehlt, Gesicht und Hals sind voller tiefer Kerben, es handelt sich um mindestens zehn Stiche. Die zweite Augenbraue hängt über das Auge herab, und der Mund ist an mehreren Stellen zerschnitten.
»Vicky wurde wütend auf uns«, sagt die Frau und ihr Lächeln verschwindet.
»Was ist passiert?«
»Sie hat uns mit einer abgebrochenen Flasche zerschnitten. Ich hätte nie gedacht, dass ein einzelner Mensch so wütend werden kann, sie hörte gar nicht mehr auf. Ich fiel in Ohnmacht, wachte wieder auf und lag nur da und spürte die Stiche von Glaszacken, die Stöße, die Scherben, die in mir abbrachen und begriff, dass ich kein Gesicht mehr hatte.«
55
DIE KOMMUNE SUNDSVALL verhandelte mit der Pflegedienstfirma Orre und musste angesichts der veränderten Lage einen hohen Preis für eine Lösung zahlen. Die Mädchen aus dem Haus Birgitta wurden vom Hotel Ibis aus vorübergehend in das kleine Dorf Hårte gebracht.
Hårte ist ein altes Fischerdorf ohne Kirche. Die Dorfschule dort wurde vor fast hundert Jahren geschlossen, die Eisenerzgrube wurde stillgelegt, und der Supermarkt machte dicht, als die Besitzer zu alt wurden. Doch in den Sommermonaten lebt das Fischerdorf mit seinen milchweißen Sandstränden an der Jungfrauküste wieder auf.
Die sechs Mädchen sollen für ein paar Monate im früheren Dorfladen wohnen, einem geräumigen Haus mit einer großen, verglasten Veranda, das dort liegt, wo sich die schmale Straße ins Dorf wie die Zunge einer Schlange teilt.
Die Mädchen haben gerade zu Abend gegessen, und einige von ihnen bleiben noch im Esszimmer und betrachten das sanft nebelblaue Meer. Im großen Aufenthaltsraum nebenan sitzt Solveig Sundström von der Betreuten Jugendwohngruppe Sävstagården mit ihrem Strickzeug vor dem knisternden Feuer im offenen Kamin.
Aus dem Wohnzimmer führt ein kalter Flur zu einer kleinen Küche. Dort sitzt ein Wachmann so, dass er den Eingangsflur und die Tür im Auge behalten und gleichzeitig durch das Fenster die Rasenfläche und bis zur Straße hinunter sehen kann.
Lu Chu und Nina suchen in der Speisekammer nach Chips, müssen sich aber mit einem Paket Frosties zufriedengeben.
»Was tun Sie, wenn der Mörder kommt?«, fragt Lu Chu.
Die tätowierte Hand des Wachmanns auf dem Tisch zuckt, und er lächelt sie steif an.
»Ihr seid hier sicher.«
Er ist etwa fünfzig Jahre alt, sein Schädel ist rasiert, und er hat einen strengen Bart zwischen Unterlippe und Kinnspitze. Unter seinem dunkelblauen Pullover mit dem Emblem der Wach- und Schließgesellschaft erahnt man seine Muskelpakete.
Lu Chu entgegnet nichts, sieht ihn nur an, stopft sich Frosties in den Mund und kaut knirschend. Nina sucht im Kühlschrank und holt eine Packung Räucherschinken und ein Glas Senf heraus.
Am anderen Ende des Hauses, am Esstisch auf der verglasten Veranda, sitzen Caroline, Indie, Tuula und Almira und spielen Karten.
»Gibst du mir alle deine Buben«, sagt Indie.
»Go fish«, kichert Almira.
Indie zieht eine Karte und betrachtet sie zufrieden.
»Ted Bundy war ein
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