Flammenpferd
hat, Hella. Wir tun hier nichts Verbotenes. Vielleicht sucht jemand nach dir?“ Er wandte sich aufs Neue dem Schloss zu und schob die Zange als Hebel in den Bügel. „Ich habe es gleich!“
Sie knipste die Lampe wieder an. Ein kräftiger Ruck, und das Schloss gab nach. Julian war im Nu auf den Beinen und griff nach dem rostigen Ring, der in das Holz eingelassen war. Die Falltür knirschte, als er sie nach oben zog. Im Lichtkegel der Taschenlampe wurden die schmalen hellen Stufen einer hölzernen Treppe sichtbar.
„Das Seil werden wir nicht brauchen. Sieht ganz stabil aus.“
Hellas Neugier erwachte. Sie staunte. „Früher gab es nur eine wacklige Sprossenleiter.“
Im Schein der Taschenlampe entdeckte sie einen Lichtschalter, der an die Einfassung der Luke geschraubt war. Auch er sah neu aus; ebenso wie das Stromkabel, das zu ihm führte. Sie betätigte den Schalter. Eine Neonlampe flackerte auf und erfüllte den Keller mit kaltem blendenden Licht.
Julian stieg als erster die steile Leiter hinunter. Hella folgte ihm. Der quadratische Keller erschien ihr kleiner als in der Erinnerung und war – bemerkenswert gegen das Chaos oben – leer und aufgeräumt. Nur eine Reihe einfacher Regale stand ungenutzt vor den grau verputzten Mauern. Auf den Holzböden hatte die Mutter das Gemüse gelagert. Die gemauerte Decke wölbte sich in einer runden Kuppel über den Raum. Hella suchte die roten Ziegel im Schein der Taschenlampe nach Rissen ab. So weit sie das beurteilen konnte, wies nichts darauf hin, dass die Decke einstürzen könnte. Warum hatte Nelli den Keller so abgesichert?
Zwei roh gezimmerte Holztüren führten in die beiden anderen Räume, die, wie Hella sich erinnerte, eng und niedrig waren. Sie öffnete die linke Tür und leuchtete in den Raum hinein. Er war leer, und es roch nach Schimmel und feuchtem Erdreich. Enttäuscht wandte sie sich ab. Hier gab es keine verborgenen Schätze zu entdecken.
Julian war im zweiten Raum verschwunden. Sie hörte ihn rufen. „Schau dir das an, Hella!“
Sie verließ die Kammer und betrat den gegenüber liegenden Raum. Er war mit braunen Pappkartons voll gestellt. Der Boden war betoniert, und die Kartons lagerten – wohl zum Schutz vor Feuchtigkeit – auf hölzernen Paletten. Alle Kartons waren sorgfältig mit braunem Klebeband verschlossen, und auf den Inhalt fand sich kein Hinweis. Hella riss ein Klebeband ab und öffnete den Karton. Zum Vorschein kamen weiße Schachteln, die wiederum mit bunt bedruckten Päckchen gefüllt waren. Julian las die Aufschrift vor.
Hella kannte den Namen. „Das ist ein Medikament gegen Erkältungen. Das müssen Hunderte von Pillen allein in diesem Karton sein.“
Sie öffneten wahllos fünf weitere Kartons und entdeckten darin Medikamente der gleichen Sorte. In einem sechsten Karton befanden sich unzählige Flaschen mit einem Hustensaft.
„Das Zeug muss ein Vermögen wert sein“, sagte Julian, und er erschien ihr gleichsam überrascht wie ratlos. Hella stellte den Karton mit dem Hustensaft ab. War sie auf Nellis heimliche Geschäfte gestoßen? Sollte sie Julian einweihen? Bei aller Hilfsbereitschaft – er war ein Fremder, und Taten wie Untaten ihrer Familie gingen ihn nichts an. Sie riss einen anderen Karton auf. Eine neue Sorte Pillen. Ein Herzmedikament.
„Ich habe keine Ahnung!“
Er lächelte. „Tatsächlich? Was wirst du unternehmen? Die Polizei holen?“
„Sicherlich. Später. Auf zwei, drei Tage wird es nicht ankommen.“
Sie stiegen die Treppe hinauf. Julian senkte die Falltür herab, und weil das Schloss nicht mehr zu gebrauchen war, bedeckten sie die Bohlen mit einem Stapel von dem Gerümpel ringsum, bis nichts mehr von der Tür zu sehen war. Den zerbrochenen Stuhl setzte Hella wie eine Krone oben auf.
Noch einmal fragte Julian, ob sie nicht doch eine Erklärung für den seltsamen Fund hätte. In seinen Augen schimmerte das Misstrauen. Und die Neugier. Sie hielt dem Blick stand.
„Gib mir Zeit zum Nachdenken“, sagte sie und bat ihn um Geduld. Und darum, die Entdeckung vorerst für sich zu behalten.
28
Kati lag in ihrem Bett aus Heu und blickte zum hohen Scheunendach hinauf. Als sich die Löcher im Dach mit Dunkelheit füllten und nicht mehr von den Ziegeln zu unterscheiden waren, setzte sie sich auf und knipste die Taschenlampe an. Der Kopf tat ihr weh. Hinter den Schläfen pochte und stach etwas erbarmungslos auf ihr Gehirn ein. Die Nase war zu, und der Hals kratzte. Die kalten feuchten Nächte forderten
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