Flammenpferd
Sportwagen in Schrittgeschwindigkeit vorwärts tuckern. Die Autoschlange bewegte sich im Schneckentempo voran. Sie schaute sich im Wagen um und war erleichtert, dass der schwarze Knirps, den Simon einmal vergessen und den sie selten gebraucht hatte, wie gewohnt auf dem Rücksitz lag. Sie war unterwegs zu Dieter Freytag, dem Zimmermeister. Er schien nun entschlossen, seinen Betrieb zu sanieren, statt auf Schwarzgeld zu hoffen. Hella wollte sich einen ersten Überblick verschaffen. Sie erinnerte sich schemenhaft an die Werkstatt in Klein Berkel, in der sie als Kind zwei-, dreimal gewesen war, und noch deutlich an die gewaltigen Maschinen und den in jeder Ecke gegenwärtigen Geruch von frisch gesägtem Holz.
Vorher galt es, mit Jette die Verabredung zum Cappuccino einzuhalten. Sie würde zu spät kommen, wenn das Tempo so zäh blieb. Durch die Regenschleier starrte sie auf die verwaschenen Umrisse des schleichenden Kombis vor ihr und musste sich zwingen, einen halbwegs sicheren Abstand einzuhalten. Sten Johansen würde rastlos durch die Scheibe kriechen, dachte sie belustigt. Geruhsames Fahren war seine Sache nicht. Gestern Abend hatte er ordentlich aufs Gas getreten, ohne dabei allzu riskant oder gar rücksichtslos zu fahren und sie damit überrascht, weil es nicht zu dem geduldigen Verhalten passte, das er gegenüber seinen vierbeinigen Patienten bewies. Auf der Hinfahrt war Sten, unterbrochen von schwungvollen Überholmanövern, ins Erzählen gekommen. Nun wusste sie, dass er den ausgefallenen Namen seinem norwegischen Vater zu verdanken hatte, der zum Studium nach Kiel gekommen war, an der Universität die einzige Tochter eines holsteinischen Gutsherrn kennen und lieben lernte und kurz nach der Geburt seines zweiten Kindes und Sohnes Sten bei einer Drückjagd vom Nachbarn erschossen worden war. Sten berichtete scheinbar leichthin und emotionslos, und Hella konnte die Tragweite dieses Jagdunfalls nur erahnen. So wäre er in einem Frauenhaushalt aufgewachsen, erzählte Sten und lenkte den Wagen zügig über die vierspurige Bundesstraße. Erzogen von Schwester, Mutter, Großmutter und deren Schwester, einer weit gereisten und lebenslustigen Witwe. Und inmitten der Stuten, Fohlen und Hengste, die das ganze Denken und Schaffen der vier Frauen bestimmten. Ihm wäre gar nichts anderes übrig geblieben, als ein Tierdoktor zu werden, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln.
„Haben Sie diese Wahl bereut?“, fragte Hella und griff nach dem Haltegriff über der Tür. Sie sah die enge Rechtskurve vor sich, aber er umfasste das Steuer mit beiden Händen und widmete die Aufmerksamkeit dem lohnenden Ziel, mit allen vier Rädern auf der Straße zu bleiben.
„Mir kamen oft Zweifel“, bekannte er, als es etwas geruhsamer geradeaus ging, „solange ich die Praxis auf dem Hof meiner Familie betrieb. Inzwischen ist mir klar, dass es nicht an der eigentlichen Arbeit lag, sondern an den Umständen. Meine Schwester, meine Mutter, beide können nicht akzeptieren, dass ich mein eigenes Leben führen muss. Als meine Schwester heiratete, wurde es unerträglich. Aber das ist Vergangenheit. Ich freue mich über den neuen Start hier in Hameln.“
„Also gefällt es Ihnen hier?“
Er nickte. „Immer mehr, je besser ich die Stadt und die Menschen kennen lerne. Stimmt es, dass Sie auch noch nicht lange in Hameln leben?“
„Nicht ganz“, stellte Hella richtig. „Ich bin hier aufgewachsen, habe aber für eine ganze Weile im Rhein-Main-Gebiet gelebt.“
Weil er so offen gewesen war, hatte auch sie ein wenig über ihre Familie und etwas ausführlicher von ihrem Berufsleben gesprochen, ohne allzu viel Privates zu verraten. Obwohl es ihr nicht schwer gefallen wäre. Sten Johansen war ein Mann, mit dem man gut reden konnte. Sie hatte sich bei dem Verlangen ertappt, ihm von Blitz zu erzählen und von ihren Zweifeln gegenüber Julian, und wusste, dass ihr diese Zurückhaltung gegenüber Jette noch wesentlich schwerer fallen würde.
Sie hatte Glück und fand eine freie Parkbucht im Kopmanshof. Die Straße verlief parallel zur Osterstraße, in der das prächtige Stiftsherrenhaus mit dem Museumscafé lag, in dem Jette seit zehn Minuten wartete. Hella schnappte den Schirm, zog einen Parkschein aus dem Automaten und eilte durch den Regenschauer in die Fußgängerzone hinein und die wenigen Stufen zum Café hinauf. Sie schüttelte das Wasser aus dem Schirm und steckte ihn in den prall gefüllten Schirmständer. Der saalartige Gastraum, der in
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