Flammenpferd
des Parcours und anderer Pferdezeitschriften, die der ungebetene Gast aus dem Altpapier gefischt haben musste – eine Lektüre, die nicht unbedingt auf einen gewöhnlichen Stadtstreicher schließen ließ. Ein Blick aus dem Loch in der Fachwerkwand dahinter bestätigte Hellas Vermutung. Man schaute unmittelbar in den Paddock von Fadista hinein, und die herum liegenden leeren Kekstüten wiesen darauf hin, dass Jana diesen Aussichtspunkt oft und lange benutzte.
Hella hatte bestätigt bekommen, was sie vermutet hatte. Anstatt sich damit zu begnügen und die Leiter herab zu klettern, folgte sie ihrem bisweilen verhängnisvollen Hang zur Neugier und schaute sich weiter um. Wieder ließ sie sich von huschenden Ratten leiten. Was sie hinter einem Stapel alter Strohbunde finden sollte, drehte ihr den Magen um. Da lag er vor ihr im Stroh, dem Schein der Taschenlampe erbarmungslos preisgegeben: das Fell grau und verfilzt, von Spuren aus Lehm gezeichnet, der Bauch aufgebläht, die Muskelstränge an Beinen und Rücken aus dem Fell geschält und von emsigen Nagezähnen durchlöchert. Das Schlimmste waren die Augen. Genauer die Stelle, an der einmal Augen gewesen waren. Weiße Knochenhöhlen im abgenagten Schädel. Sie warf sich herum, ließ die Lampe fallen und übergab sich wieder und wieder, bis der Magen außer bitterer Galle nichts mehr zu bieten hatte.
36
Es war stockfinster in der Kammer. Die schweren Vorhänge sperrten das Nachtlicht aus. Sie tastete nach der Lampe. Das Leselicht hüllte den Stuhl neben dem Bett und den Turm von Büchern darauf in eine blendende Helligkeit und löste den Raum dahinter in schwarze Schatten auf. Hella erhob sich und schaltete das Deckenlicht ein. Dann legte sie sich auf das Bett und blickte zur Zimmerdecke hinauf.
Seit Nellis Tod hatte sie keinen solchen Albtraum gehabt. Und selten konnte sie sich nach dem Aufwachen in so scharfer Klarheit an jede Einzelheit erinnern. Der Anfang war realistisch. Sie sitzt in der Küche, am üblichen Platz auf der Eckbank, den vollen Kaffeebecher vor sich, als Blitz sich von seinem Platz vor dem Ofen erhebt und zu ihr herüber trottet. Er legt seine Schnauze auf ihren Oberschenkel. Auf der Haut fühlt sie die Wärme seines Kopfes, ihre Hand streichelt die graue Stirn, und er schaut sie aus lebendigen braunen Augen an. Er will ihr etwas mitteilen, das spürt sie. Dann ist er plötzlich über ihr. Sie liegt auf dem Rücken, fällt rücklings in die Tiefe, schneller und schneller stürzt sie hinab, verfolgt von seinen toten Augen, die nichts sind als fahle Trichter, aus denen die Maden in blassen wimmelnden Knäueln hervor kriechen.
Als sie am Morgen mit dem Wecksignal erwachte, fühlte sie sich matt und verwirrt. Mit den Fingerspitzen betastete sie die Stirn. Die Narbe unter dem Pflaster, die sie bisher kaum gespürt hatte, begann zu jucken. Sie blieb noch fünf Minuten liegen, bevor sie aufstand, die Leselampe und das Deckenlicht ausschaltete und an dem hohen Stapel aus Kartons, die sie vor der Wand aufgeschichtet hatte, vorbei ans Fenster trat und die Vorhänge aufzog. Das Fenster zeigte in den Obstgarten, der mehr und mehr verwilderte. Kniehohes gelbes Gestrüpp umwucherte die Stämme. Die Apfelbäume schmückten sich mit dem zartesten Grün, und in der Krone der uralten Sauerkirsche flötete ein Amselmännchen aus voller Kehle. Ein unbeschwerter Klang, der nicht zu diesem Morgen passen wollte, der einen Berg von ungelösten Problemen und hässlichen Gedanken für Hella bereithielt. Sie beneidete Jette, die mitten in der Nacht aufgebrochen war und inzwischen vielleicht ein Frühstück über den Wolken genoss. Bevor sie das Zimmer verließ, zog sie die Vorhänge wieder zu. Sie schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche.
In der Küche war es eiskalt, und die Kälte kroch ihr die Beine hinauf. Sie heizte den Ofen an, damit sie es später warm hatte, und hielt die Hände vor die Glut. Die Stille im Haus war beklemmend. Keine Hundekrallen, die über die Fliesen klackten. Von Swantje war nichts zu sehen oder zu hören, was Hella zu dieser Stunde nicht wunderte. Maren hatte diesen Sonnabend und den morgigen Sonntag frei, und so musste Hella die Stallarbeit allein übernehmen. In Wiesbaden war sie frühestens um halb Neun und mit schlimmster Morgenmuffelmiene ins Büro getrottet und hatte sich in der ersten halben Stunde vom Telefon fern gehalten. Im Stall genoss sie es, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, aber was ihr an diesem
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