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Flammenzorn

Flammenzorn

Titel: Flammenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Bickle
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die Grabsteine waren exakt geometrisch. Über ausgedehnte Rasenflächen zog er sich bis zu den zerklüfteten, kunstvoll gearbeiteten Grabsteinen der vorletzten Jahrhundertwende. Diese Steine waren von der Luftverschmutzung und der langen Zeit geschwärzt, ihre Inschriften von den Jahren und saurem Regen zu einem großen Teil ausradiert. Der Friedhof war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Garten-Friedhofs-Bewegung entstanden, die parkähnliche Anlagen gestaltet hatte. Zu jener Zeit wurden freundliche, baumbestandene Friedhöfe geplant, die auch für das Familienpicknick oder spielende Kinder Raum ließen. Damals herrschte noch die viktorianische Meinung, die grob besagte, dass der Odem des Todes die Lebenden stets umweht. Als die Gesellschaft jedoch immer weniger mit dem Tod zu tun haben wollte, wurden die Grabmale schlichter und schmuckloser, und die Gräber wurden seltener besucht.
    Heute allerdings waren zu viele Leute hier. Anya schaffte es nicht die eine Person - ihren Brandstifter - in der Menge auszumachen. Bei Neumans Beerdigung standen Hunderte von Trauernden in mehreren Reihen um das Grab herum. Die Presseleute blieben respektvoll abseits, schossen ein paar Fotos und trotteten dann zurück zu ihren Übertragungswagen. Außer ihnen bewegten sich Dutzende Trauernde, die andere Tote beklagten, zwischen den Grabsteinen umher und hielten Blumen in den Händen. Eine Frau war eifrig damit beschäftigt, das wuchernde Unkraut auf einem Grab in etwa fünfzehn Metern Entfernung auszurupfen. Eine Gruppe von Schülern im Highschool-Alter fertigte mit Malkreide auf Pergament Reliefzeichnungen von älteren Grabsteinen an. Ein Mann, möglicherweise ein Historiker oder Ahnenforscher, spazierte mit Notizbuch und Stift zwischen den Gräbern umher. Das waren die Lebenden. Die Garten-Friedhofs-Bewegung wäre begeistert.
    Die Toten wanderten ebenfalls durch den Sonnenschein. Auch im Leben nach dem Tod blieb der Friedhof ein Park. Der Geist eines Kindes saß auf einem Stein und ließ die Beine baumeln, während ein Mädchen im gleichen Alter in der Nähe auf einen Walnussbaum kletterte. Der Geist einer jungen Frau streckte sich im Schatten einer Kiefer aus und spielte mit seinem Säugling. Ein pummeliger Mann in mittleren Jahren saß auf einer Seite eines Doppelgrabmals und hielt eine Schirmmütze in der Hand. Der Todestag seiner Frau auf der anderen Seite des Grabmals war noch nicht eingraviert worden, und Anya fragte sich, wie lange er wohl noch auf ihre Gesellschaft würde warten müssen.
    Der Geist eines älteren Mannes führte einige Meter entfernt seinen Hund zwischen den Gräberreihen spazieren. Sparky flitzte davon, um mit dem Hund zu spielen. Der alte Mann lachte, als der Salamander und der Hund sich gegenseitig am Hintern beschnüffelten und um einen Grabstein herumtollten.
    »Das tut mir leid«, sagte Anya und versuchte Sparky zurückzurufen. Keiner der vielen Trauergäste am Grab bemerkte, dass sie fort war.
    Der Geist des alten Mannes lachte. »Lassen Sie sie doch spielen. Bones langweilt sich. Ein bisschen Fangenspielen wird ihm das ganze Jahrzehnt verschönern.«
    Die Gewehre feuerten zum Salut und ließen Anya aufschrecken und sich wieder auf die Zeremonie konzentrieren. Einundzwanzigmal feuerten die Gewehre. Anya nahm an, dass inzwischen sogar die Geister auf das Geschehen aufmerksam geworden waren: auf die Eltern, die kein lebendes Kind mehr hatten und die sich verzweifelt an der Flagge festhielten, und auf die Schützen, mit weißen Litzen an den Schultern, die ihre Gewehre festhielten.
    Aber einer drehte sich nicht um, einer schaute nicht hin. In der Ferne im alten Teil des Friedhofs sah Anya eine Gestalt zwischen den Bäumen umhergehen. Sie trug eine schwarze Jacke, eine schwarze Hose und eine Sonnenbrille. Das Profil konnte sie aus dieser Distanz nicht erkennen, aber wie sich die Gestalt bewegte kam Anya bekannt vor - die Art, wie sie beim Gehen das rechte Bein belastete. Der Geist eines Mannes in Anzug und mit Bowlerhut spazierte vor dem Fremden den Pfad entlang. Der Fremde schien seine Schritte zu beschleunigen. Offenbar verfolgte er den Geist.
    Anya überließ den Geist mit seinem Hund sich selbst und rannte los. Sparky riss sich von dem Geisterhund los und stürzte wie ein riesiges Eichhörnchen hinter ihr her. Die kühle Oktoberluft brannte in ihrer wunden Kehle, und ihre Lunge drohte, den Dienst einzustellen.
    Der fremde Mann ignorierte sie und näherte sich dem Geist, der am Rand der

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