Flammenzorn
still in der Dunkelheit verschwinden sollte, ohne vorher herumzuspuken -, hatte sie damals der Gedanke bekümmert, dass sich ihre Mutter anscheinend nicht genug um sie sorgte, um noch ein bisschen zu bleiben. Wenigstens für eine Weile.
Anstatt den Geist ihrer Mutter oder die kalten Plastikperlen des Rosenkranzes festzuhalten, hatte Anya den Kupferreif umklammert. In den Augen ihrer Tante war der Reif ein schrecklich unpassender Schmuck für ein so junges Mädchen, aber ihr Onkel war dazwischengegangen und hatte gesagt: »Sei still und lass das Mädchen trauern!«
Nun knieten um sie herum praktizierende Katholiken und trugen mit den üblichen Antworten zur Messe bei. Anya saß ganz still, die Hände im Schoss gefaltet, die Lippen fest geschlossen, während Messe und Grabreden ihren Lauf nahmen. Sie gehörte nicht mehr dazu. Als die Zeit für die Kommunion gekommen war, blieb sie auf der Bank sitzen und beobachtete, wie die Priester Hostien auf die Zungen der Gläubigen legten.
Ohne sie. Sie hatte seit ihrer Kindheit nicht mehr gebeichtet. Und was hätte sie auch beichten sollen? Dass sie das Feuer verursacht hatte, durch das ihre Mutter gestorben war? Dass sie sich in Gottes unergründlichen Plan für die Geister hier auf Erden einmischte, indem sie sie verschlang und ... wer weiß wohin schickte? Sie vielleicht zerstörte? Nein, das waren Sünden, die die Kirche niemals vergeben würde. Und Anya konnte sich nicht dazu überwinden, um Vergebung zu bitten.
Sie erinnerte sich an den freundlichen Gemeindepriester, der versucht hatte, ihr beizustehen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ihre Tante und ihr Onkel hatten mit Religion nichts im Sinn, doch aus einem Gefühl der Sorge heraus hatten sie Anya zu ihm gebracht. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Anya wochenlang mit niemand anderem als ihrem imaginären Freund gesprochen. Sie war eindeutig zu alt für derartige Fantasien gewesen, und ihre Tante und ihr Onkel hatten gehofft, der Priester könnte sie aus ihrer Benommenheit und ihrer Trauer herausholen.
Der Priester hatte mit ihr in seinem Büro zusammengesessen, wo sie das Holzkreuz an der Wand neben dem Fenster angestarrt hatte. Während er mit ihr sprach, hatte sie den Staubkörnchen zugesehen, die im Sonnenschein schwebten, und dem Geist eines lang verstorbenen Priesters zugehört, der draußen über den Korridor gewandelt war. Sie hatte sich gefragt, was der tote Priester Furchtbares getan haben mochte, dass ihm die Auferstehung vorenthalten wurde. Und es gab nichts, was der der lebende Priester sagen konnte, das ihre Mutter zurückgebracht oder ihre Wahrnehmung der Realität verändert hätte. Ihr Verbrechen war zu schrecklich, um es in Worte zu fassen. Ihre Lippen blieben monatelang hartnäckig versiegelt, bis ihre Tante sie schließlich aus purer Verdrossenheit schlug.
Anya keuchte, und dieses Geräusch brachte sie in die Realität zurück und entzündete das Feuer des Zorns in ihrem Innern.
Und sie schlug zurück.
Am nächsten Tag vereinbarten ihre Tante und ihr Onkel einen Termin beim Jugendamt. Sie kämen nicht zurecht mit dem Kind, so sagten sie. Sie wollten sie zu Pflegeeltern geben, sagten sie. Die Sachbearbeiterin sah sie alle über den Schreibtisch hinweg an und erklärte ihnen, sie sollten eine Nummer ziehen. Sie hätte echte Familien mit echten Problemen, um die sie sich kümmern müsste.
Und so blieb Anya bei ihnen. Ihre Tante sprach selten mit ihr, und ihr Onkel war selten zu Hause. Die Stille in ihrem Zimmer, beim Essen und vor dem Fernseher gab ihr viel zu viel Zeit zum Nachdenken, doch ihre Gedanken kamen ihr nur selten über die Lippen. Sie war wie ein Geist, der im Haus der Verwandten lebte, huschte auf Strümpfen durch die Korridore und vergrub ihre Nase in Bücher aus der Bibliothek - oder in Sparkys Hals. Als sie alt genug war, um das Zuhause von Onkel und Tante zu verlassen, das nie ihr Zuhause geworden war, sprach sie noch seltener mit ihnen.
Nun kam die Erinnerung an diese Stille in ihr hoch, ließ sie am Sitz haften, als wäre sie nur ein kleines Mädchen in der Kleidung eines Erwachsenen. Das Gefühl überspülte sie, wie Wasser, das aus einem gebrochenen Rohr schießt, und Anya biss auf ihre Lippe, um sich nicht davon überwältigen zu lassen. Sie fragte sich, ob Neumans Eltern diese Stille spürten, weit entfernt in der ersten Reihe, ob sie fühlten, wie die bedeutungslosen Worte über sie hinwegglitten.
Die Leute in den Kirchenbänken setzten sich langsam in Bewegung. Die
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