Flammenzorn
Grabreihe entlangschwebte. Die Füße des Geistes berührten nicht den Boden; gemächlich wie eine Wolke trieb er den ausgetretenen Pfad zwischen den Grabsteinen hinab.
Sie wollte dem Mann zurufen, ihn auffordern, stehenzubleiben, wollte dem Geist eine Warnung hinterherbrüllen, doch sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Sie bezweifelte, dass irgendeiner der Trauergäste sie gehört hatte - und der unaufmerksame Geist wohl auch nicht.
Es war zu spät. Der Mann schritt zielstrebig über das Gras und einfach in den Geist hinein. Es sah aus, als wäre er in eine dichte Rauchwolke getreten - und der Geist löste sich auf. Er zerfaserte in einzelne Schwaden, die in der kühlen blauen Luft fortschwebten. Ein schwacher Seufzer, beinahe wie das Rauschen einer Muschel, wanderte über das Gras.
Er hatte den Geist verschlungen, so einfach, als wäre er nur durch einen hauchdünnen Vorhang getreten. Die Lässigkeit, mit der er das getan hatte, schockierte sie ... und er ging einfach weiter. Ohne auch nur einmal innezuhalten, marschierte er weiter über den Hügel zu den Gruften.
Anya folgte ihm, doch er verschwand hinter einer kleinen Baumgruppe. Außer Atem rannte sie hinterher und kam auf eine Lichtung, die dominiert wurde von einem Jugendstilmausoleum aus Kalkstein. Drei Walnussbäume standen direkt davor, und ihre Äste bogen sich graziös zu Boden. Zwei schwarze, schmiedeeiserne Löwen bewachten mit erhobenen Vorderpfoten den bogenförmigen Eingang. Die Eisentür hinter ihnen stand einen Spaltbreit offen.
Eine Einladung?
Sparky richtete die Kiemen auf, und seine Nasenflügel bebten. Anya knöpfte ihre Uniformjacke auf und griff nach ihrer Waffe. Dann öffnete sie die Tür und zog sogleich die Hand zurück, als sie die Hitze spürte, die von dem Metall ausging. Das Schloss war einfach weggeschmolzen, ohne dass das kunstvolle, eiserne Tor Schaden genommen hätte.
Das Tageslicht schickte Anyas langen Schatten voraus. Und die geometrischen Schatten des Türgitters erstreckten sich über den Boden und die angelaufenen Messingtafeln an den Wänden. In der Mitte des Mausoleums war eine Marmorbank. Eine dunkle Gestalt stand vor der gegenüberliegenden Wand und betastete einen Fleck Graffitifarbe auf einer der Messingtafeln. Sparky kauerte sich tief zu Boden und nahm knurrend seine Angriffshaltung ein.
»So etwas wie das hier wird heutzutage nicht mehr gebaut«, sagte er. Im Profil, ruhig und ohne die Aura des Feuers, war sein Gesicht durchaus attraktiv: ein kantiges Kinn und tief liegende Augen unter dichten Brauen. Seine Sonnenbrille hing an seinem Hemdkragen. Er hätte ebenso gut den Seiten eines Hochglanzmagazins entsprungen sein können. »Es ist eine Schande, sie zu verunstalten.«
Anya lachte; ein kurzes, heiseres Bellen. »Ein Brandstifter, der zugleich Denkmalschützer sein will.«
Nun drehte er sich um, zog eine Braue hoch und sah sie an. Sein linkes Auge war von einem warmen Braunton, die Pupille in der Dunkelheit geweitet. In dem anderen Auge hatte sich eine Trübung über der erstarrten Linse ausgebreitet, die nicht mehr auf Licht reagierte. Die Braue über diesem Auge war etwas uneben, als läge unter den perfekt gepflegten Härchen eine Narbe. Ihr ging auf, dass er auf diesem Auge blind war.
»Man muss das Alte entfernen, um Platz für das Neue zu schaffen«, sagte er.
Anya richtete unverwandt die Waffe auf ihn. »Ist das der Grund, warum Sie diese Feuer legen? Um Platz für ...«
»Um Platz für Sirrush zu schaffen.« Er zeigte ihr ein strahlendes Lächeln, und seine Zähne blitzten in der Dunkelheit weiß auf.
»Wer zum Teufel sind Sie?«
»Ich bin Sirrushs rechte Hand. Das ist doch offensichtlich.«
»Mir egal, selbst wenn Sie die rechte Hand Gottes sind. Nehmen Sie die Hände hoch«, befahl Anya.
»Nein«, sagte er. »Ich unterhalte mich viel lieber hier mit Ihnen, wo wir unter uns sind, und nicht auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ich werde Sie nicht davonkommen lassen. Sie gehen mit mir, und wenn ich Sie den Hügel runterzerren muss.«
Er lächelte. »Ich glaube nicht, dass Sie mich zu irgendetwas zwingen können.« Seine Hand flammte auf wie eine Fackel, und er wischte mit den Fingern sorgfältig das Graffiti von der Messingtafel. Dann schüttelte er seine Hand aus wie ein Streichholz. »Sie werden es bestimmt nicht schaffen, mir Handschellen anzulegen.«
Anya wich zur Tür zurück und tastete an ihrem Gürtel nach den Handschellen. Hinter ihrem
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