Flammenzorn
Sie bereit?«
»Ja, Hochwürden.«
Sie kniete vor dem Altar und sprach mit dem Pfarrer das Vaterunser. Sie hatte das Vaterunser immer in Gesellschaft anderer gesprochen, und nun erschien ihr ihre Stimme kläglich verglichen mit der von Pfarrer Mark.
»Erlöse uns, Herr, Allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen«, intonierte Pfarrer Mark. »Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten.«
»Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen«, antwortete Anya.
»Der Friede des Herrn sei allezeit mit dir.« Pfarrer Mark präsentierte die Symbole für Blut und Leib Christi der leeren Kirche, ehe er den Kelch zu Anya herabsenkte. »Das Blut Christi.«
Anya legte die Lippen an die Schale. Der Wein versengte ihre Kehle, und das Schlucken bereitete ihr große Mühe. »Amen«, krächzte sie.
Pfarrer Mark legte ihr die Hostie auf die Zunge. »Der Leib Christi.«
Die Oblate löste sich an ihrem Gaumen auf und prickelte hinter ihren Zähnen, als hätte sie eine Handvoll Brausepulver geschluckt.
»Amen«, hauchte sie und senkte den Kopf. Sie hoffte, der Pfarrer würde glauben, die Macht des Gebetes hätte sie schlicht überwältigt.
»Der Herr segne und behüte dich. Der Herr erlöse dich von deinem Leid und leite dich auf deiner Mission. Dank sei Gott.«
»Dank sei Gott«, wiederholte sie, aber sie konnte ihre eigene Stimme nicht hören. Sie hörte nichts außer dem Flügelschlag des gefangenen Vogels, dessen Schwingen nutzlos gegen das Buntglas schlugen.
Anya entzündete eine Kerze für Brian und sprach ein Gebet in der Hoffnung, dass es irgendeine winzige Wirkung auf seinen Geist haben würde, wo immer er eingesperrt sein mochte. Sie wartete darauf, dass der Geist des jungen Priesters zurückkehrte, doch er trat nicht mehr in Erscheinung. Geister waren keine sonderlich verlässlichen Kreaturen.
Kurz nach Sonnenuntergang verließ sie die Kirche. Der Herbst hatte in sämtliche Ecken von Hamtramck Einzug gehalten und das Laub der Bäume in rote und goldene Farbtöne getaucht. Der Rasen rund um das rötliche Gestein der Kirche hatte aufgehört zu wachsen, und erste gelbe Halme bohrten sich durch den Teppich aus grünem Gras. Zirruswolken schwebten vereinzelt am dunkler werdenden Himmel, und eine steife Brise wehte Abfälle und Laub durch die Rinnsteine. Sparky jagte einem Pappbecher hinterher, der über den Gehsteig rollte.
Sie beschloss, nach Hause zu gehen. Der lebende und der tote Geistliche hatten ihr viel zum Nachdenken mitgegeben. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie musste sich der Tatsache stellen, dass Mimi sie heimsuchte. Nachdem sie bei den DAGR eine Handvoll ähnlicher Fälle erlebt hatte, kannte sie die Anzeichen. Mimi hatte einen Zeh in der Tür zu ihrem physischen Dasein. Wenn sie nicht vorsichtig war, würde sie bald wie die arme Chloe als voll ausgereifter Fall dämonischer Besessenheit enden und in ihrer Badewanne um sich schlagen. Und damit wäre niemandem geholfen.
Das Ritual des alten Pfarrers hatte ihr Schmerzen bereitet, und sie hoffte, das bedeutete, dass es wirkte, dass die Kommunion Mimi vertrieben hatte, zumindest für den Augenblick. Mimi weiterzureichen wie eine gebrauchte Jeans war keine Option. Das widersprach wirklich jedem Körnchen Moral in ihr; sie würde nicht einfach einem Unschuldigen die Gefahr aufbürden, die Mimi darstellte. Das würde niemals passieren.
Sie könnte zu den DAGR gehen, darüber hatte sie bereits nachgedacht. Aber ihr Stolz erlaubte ihr nicht, jetzt angekrochen zu kommen und um die Hilfe zu bitten, die ihrerseits zu geben sie sich gesträubt hatte. Nein. Es musste eine andere Lösung geben, eine, die weder die anderen noch ihren eigenen Stolz in Gefahr brachte. Diese Brücke war abgerissen, und sie musste einen anderen Weg finden.
Im letzten Tageslicht öffnete sie ihren Briefkasten und wühlte in der Post. Rechnungen. Reklamesendungen. Weitere Angebote für Fassadenverkleidungen aus Aluminium. Anya musterte ihr Haus. So schlecht sah es doch gar nicht aus. Warum hörten die nicht auf, sie zu belästigen? Sie blätterte an drei Werbesendungen für Kreditkarten vorbei, bis ihre Finger auf einem elfenbeinfarbenen Umschlag zur Ruhe kamen. Er war handschriftlich an sie adressiert, und sie erkannte die Schrift wieder. Sie hatte sie schon auf der Karte gesehen, die mit den Blumen gekommen war, und auf
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