Flammenzungen
retten. „Was hat er von Ihnen eingefordert?“
„Na, dass Sie beide Freunde werden. Haben Sie das immer noch nicht kapiert?“ Er lachte, wohl über ihre Begriffsstutzigkeit, und eilte davon.
Fassungslos schaute Amy ihm hinterher. Sie hielt ihn nicht auf. Völlig durcheinander wich sie zur Seite, damit eine Großfamilie mit zwei Einkaufskörben an ihr vorbeikam. Auf der einen Seite glaubte sie dem Indianer, auf der anderen fragte sie sich, ob es wirklich wahr sein konnte, dass Lorcan sich von ihm hatte aufmischen lassen, um Amys Aufmerksamkeit zu erlangen. Er hatte doch während der Essensausgabe schon dezent mit ihr geflirtet und gewiss gespürt, dass sie sich für ihn interessierte. Wozu also diese Show?
Damit sie sich um ihn kümmerte? Um ihr Mitleid zu wecken, damit sie ihn wie einen geprügelten Hund mit nach Hause nahm? Damit hatte er nicht rechnen können. Auf jeden Fall hätte er erreicht, dass sie sich verantwortlich für ihn fühlte, dass sie sich um ihn kümmern würde, bis er genesen war, und ihn besuchte. Aber woher hatte er gewusst, wie sie reagieren würde ? Die gute Samariterin wurde sie von einigen der Stadtstreicher genannt, weil sie freundlicher mit ihnen umging als Wanda und die anderen.
„Was weißt du von mir?“, hatte Lorcan sie einmal gefragt. „Nichts. Die guten Samariter trifft es immer als Ersten.“ Er hatte sie offenbar beobachtet-und analysiert.
Amy setzte sich auf einen Stapel Waschpulverpaleete und vergrub das Gesicht in den Händen. Sein Plan war aufgegangen, aber das hieß nicht, dass er damit bereits, sein Ziel’ erreicht hatte.
Was wollte er von ihr?
Sie war doch viel zu unbedeutend, war weder vermögend noch die Tochter des Richters, an dem er sich rächen wollte, weil er ihn die vollen sechs Monate in U-Haft gelassen hatte. Derartige Szenarien gehörten in Romane, nicht in die Wirklichkeit. Oder hatte es etwas mit dem Asyl in der ehemaligen Grundschule zu tun? Steckte die Arische Bruderschaft dahinter, und er war nur ihre Marionette? Würde The Brand wirklich einen Indianer für seine Pläne einspannen? Das schien ihr unwahrscheinlich, es sei denn, er sollte als Sündenbock herhalten.
Was auch immer vor sich ging, sie musste auf der Hut sein. Jede Sekunde jeder Minute. Jede Minute jeder Stunde.
Jede Stunde eines jeden Tages. Immer.
Ihr erster Gedanke war, Lorcan sofort vor die Tür zu setzen, aber wenn sie genauer darüber nachdachte, erschien ihr das zu gefährlich. Er war ein Boxer, er wusste, wo sie wohnte, wo sie arbeitete und wo sie ihre Sozialstunden ableistete. Er konnte Nabil oder Skyler etwas antun ... oder ihr - und vermutlich befand sich sogar ihre Handfeuerwaffe in seinem Besitz.
Das Gefühl, das jedoch überwog, war Traurigkeit, denn sie hatte sich in den falschen Mann verliebt. Aber es war zu spät. Ihr Herz gehörte Lorcan bereits. Es würde schmerzhaft werden, es ihm wieder zu entreißen.
13. KAPITEL
November, ein Jahr zuvor
Lake Pontchartrain, Buckley-Anwesen
Sein Name war eigentlich irreführend. Der Lake Pontchartrain war kein See, sondern eine Lagune. Das zweitgrößte Salzgewässer der USA erstreckte sich von New Orleans im Süden bis Mandeville im Norden und Slidedell im Osten. Da Lorcans Heimatort, die größte Stadt in Louisiana, tiefer lag, schützten bis zu sechs Meter hohe Deiche die Bewohner vor der Überflutung. Bei Gavins neuem Anwesen reichte das Wasser jedoch bis ans Ufer.
„Kommst du?“, rief er über den englischen Rasen.
Lorcan antwortete nicht, sondern riss seinen Blick vom See los und hob sein Weinglas, um ein Ja zu signalisieren. Erst vor wenigen Minuten hätte er sich von der Führung durch das imposante Haus weggeschlichen und in die Gärten geflüchtet. Gavin hatte genug andere Anhänger, die an seinen Lippen klebten, während er seine Erfolgsgeschichte fortsetzte und seine Kolonialstil-Villa präsentierte, Kimora an einem Arm, eine Armbanduhr von Vacheron Constantin aus Genf am anderen.
Seiner Ehefrau schien das alles eher unangenehm zu sein. Sie schwieg und lächelte nur hin und wieder verlegen zur Unterstützung ihres Mannes. Am liebsten hätte Lorcan sie aus diesem Elfenbeinturm entführt. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie andere Prioritäten im Leben hatte als Reichtum. Sie wollte mit ihrer Kunst erfolgreich sein, nicht um des Geldes willen, sondern um das tun zu dürfen, was sie gern tat. Mit ihrem knallgelben Kleid und dem orangeroten Lippenstift stach sie heraus. Sie passte nicht zu den
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