Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
mehr.« Saalfeld gab nicht nach.
»Wir werden ja sehen«, entgegnete Sandra, wenig beeindruckt von Saalfelds unverständlich rauhem Ton.
Es war später Nachmittag geworden und dunkel wie an einem drückenden Wintertag. Wie besessen wütete das Unwetter weiter. Es zeigte nicht die geringste Spur von Müdigkeit. Als hätte es sich mit den Jahreszeiten angelegt und eigenhändig beschlossen, dass ein gnadenloser Herbst die Herrschaft übernehmen sollte. Kein goldener Herbst, der alles Blattwerk in leuchtende Farben tauchte und mit seinem kristallklaren blauen Himmel und seiner frischen, mineralisierten Luft dem ausgebrannten Sommer einen prächtigen Showdown bereitete. Vielmehr einer, der einem das nasskalte Blut in den Adern gefrieren ließ und in Minutenschnelle die Blätter von den Bäumen riss, ganze Wälder entlaubte, Farben und Glanz wie zwischen Handflächen zerrieb. Es schien, dem tödlichen Winter sollte mit schlagenden Pauken und donnernden Trompeten der tintenschwarze Vorhang geöffnet und eine dunkle, sehr dunkle Bühne bereitet werden. Und das Schauspiel, das aufgeführt werden sollte, kündete nicht vom lebendigen Wechselspiel der Jahreszeiten, sondern von der Vergänglichkeit, vom Tod.
So war es auch um die Stimmung im Haus bestellt. Keine Spur mehr von italienischer Lebensfreude und wärmenden, blutroten Sommerabenden.
Nein, sie alle waren gefangen genommen worden, Geiseln einer Wetterkatastrophe.
Elli hatte es den anderen übersetzt, als Lutz den italienischen Radiosender gefunden hatte. Für den gesamten Norden Italiens war der Notstand ausgerufen worden. Innerhalb weniger Stunden war mehr Regen gefallen als sonst in mehreren Monaten. Und es regnete unablässig weiter. Hunderte von Ortschaften waren komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Überall gingen Muren und Schlammlawinen herunter, Tausende von umgestürzten Bäumen versperrten die Straßen.
Und eine Wetterbesserung war nicht in Sicht. Der Bevölkerung wurde dringend geraten, die Häuser nicht zu verlassen.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Zumindest diese Nacht mussten sie alle noch unter einem Dach verbringen. Ob sie nun wollten oder nicht.
Zum ersten Mal stand nicht Carlo am Herd, sondern Sandra. Sie kochte einen Tee für Saalfeld, denn sie befürchtete, dass sein geschwächter Köper zusätzlich noch das Opfer von Viren werden konnte. Aus Erfahrung wusste sie, oft waren es nicht die eigentlichen Krankheiten, die den Patienten zu schaffen machten, sondern die heimtückischen Entzündungen, zum Beispiel in der Lunge, die als Trittbrettfahrer einer leichten Grippe dem Körper die letzte Widerstandskraft rauben konnten. Zwar konnte sie nur wenig gegen Saalfelds eigentliches Leiden ausrichten, aber sie konnte wenigstens versuchen, weiteres zu verhindern. Von Tina hatte sie ein paar Heilkräuter bekommen. Ausnahmsweise nicht zum Rauchen, angeblich waren sie sogar sehr gesund. Als Dreingabe hatte Tina sie mit einem versuchten Zungenkuss überrascht. Was Sandra unangenehm war.
Sandra wartete, bis das Wasser kochte, und ging auf Carlo zu, mit dem sie allein in der Küche war. Alle anderen hatten sich in ihre Zimmer oder andere Ecken des Hauses verzogen. »Wie geht’s dir?«, fragte sie.
»Mir? Wie’s mir geht? Wer will schon auf so eine Frage eine ehrliche Antwort? Gut geht es mir, wie immer.« Er war fast abweisend.
»Ich, ich will eine ehrliche Antwort!« Sie sah ihn an, lange, direkt, selbstsicher und doch verletzlich.
»So, ehrlich? Wer ist denn hier noch ehrlich? Alles Lüge. Bitte, wenn du es genau wissen willst. Ich fühl mich elend, hundselend. Ich bin nicht der Typ für so was. Ich bin treu. Ich brauch solche riskanten Spielereien nicht. Gefährliche Abenteuer, da war ich noch nie der Typ für. Und dann noch vor allen anderen. Vor ihr! Gleich mit zwei Frauen. Da ist man sein Leben treu …«
»Vielleicht waren wir gestern alle zu ehrlich? Vielleicht ist einfach nur die Wahrheit ans Licht gekommen? Alles, was wir verdrängt haben.«
»Was für eine Wahrheit? Wie meinst du das? Wie soll ich des jetzt wieder verstehen?«
»Ich fand es sehr schön mit dir. Aber das wusste ich vorher schon. Dass es schön werden wird.«
Wie konnte sie ihm einfach so sagen, dass sie es schön fand? Und dass sie es vorher schon wusste! Was war überhaupt »es« und was sollte bitte »schön« heißen? Ihr Duft kroch ihm unter die Haut. Er ertappte sich dabei, wie er sie betrachtete. Wahrscheinlich
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