Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
kaum beachtet. Anna war viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dass Tina nur ein Fass zum Überlaufen gebracht hatte, das schon längst randvoll war. Ihr gab sie keine große Schuld. Dass Anna die Kontrolle über sich verloren hatte, war ihr eigenes Problem, hausgemacht sozusagen. Auch wenn Tina die verfluchten Drogen ins Haus gebracht hatte. Die Schuld lag einzig und allein bei Anna selbst. Den ganzen Morgen über hatte sie sich nur mit sich beschäftigt. Nur um ihre eigenen seelischen Abgründe waren ihre Gedanken gekreist. Um ihre Zukunft, ihren immer stärkeren Drang nach gefährlichen Spielchen, um die zerstörerische Anziehungskraft, die das Verbotene auf sie ausübte. Um die Sehnsucht nach dem Abgrund, nach dem Sprung über die Klippen. Dem musste sie sich stellen. Ein für alle Mal.
Wieso sie dennoch so plump von Tina in den Boxring gerufen wurde, wollte ihr nicht in den Sinn. Wollte sich Tina mit ihr messen? War die alternative Hippiefrau im Grunde genauso ehrgeizig wie Anna selbst. War Tina neidisch auf das, was Anna darstellte, was sie erreicht hatte? Oder ging es nur um die Rollenverteilung, darum, wer die beste Stellung in der Gruppe hatte? Was es so simpel?
»Pass auf, dass dein Frust dich nich noch auffrisst«, sagte Tina jetzt ganz ruhig.
»Wenn ich dich unsicher mache, dann liegt das an dir. Mich zu provozieren ist verschwendete Zeit.«
Jeder Satz der beiden Frauen hatte gesessen. Da Tina aufgestanden war, standen sie sich nun gegenüber, Kinn an Kinn.
»Weißt du, Anna, so eine wie du ist deshalb so gefährlich, weil du selbst nicht mehr weißt, wer du bist. Du spielst mit den Menschen. Ich sag ja nicht, absichtlich. Aber verletzen, verletzen tust du die Menschen trotzdem. Nach außen gibst du die brave Anwältin, aber eigentlich schlummert in dir was ganz anderes. Ich seh so was sofort. Aber jemand wie Carlo bleibt da über Jahre blind. Um den tut’s mir echt leid.«
Wieder kribbelte es in Annas Hand. Woher nahm diese Kreuzberger Verliererin die ungeheuerliche Frechheit, sich derart einzumischen?
»Glaubst du wirklich, ich nehme solche lächerlichen Banalitäten ernst?« Jetzt äffte Anna Tina nach. »Oh! Anna, lass dir sagen, du hast zwei Seiten!« Anna drehte sich ab und machte einen Schritt zur Seite, um Tina auch damit zu zeigen, dass sie nicht auf einer Augenhöhe waren. »Ich hätte dich wirklich für klüger gehalten. Da hab ich wohl jemanden überschätzt. Weißt du, Schätzchen, alle haben wir unsere zwei, ach was, drei Seiten in uns. Wo ist denn da bitte deine große Erkenntnis? Wer gibt dir überhaupt das Recht, dich einzumischen? Das würde mich mal interessieren? Denkst du, nur weil du dir ständig die Birne zudröhnst und dein verhaltensgestörter, paranoider Freund dir alle Freiheiten lässt? Flaschendrehen? Also, ich bitte dich – kindliche Manipulationen! Spielchen. Deswegen kannst du dich in andere Leben einmischen? Wer, bitte schön, ist denn hier die Skrupellose mit der gestörten Persönlichkeit? Denkst du, du bist besser? Du bist sogar noch hemmungsloser! Kindchen, bist du naiv! Du hast nicht mal die geringste Ahnung, wen du vor dir hast.«
Als letzten Dolchstoß gab Anna der verdutzten Tina noch einen Kuss auf die Stirn, wie einem kleinen Mädchen, das man zu Bett brachte. Dann warf sie die plüschige Wolldecke über ihre Schulter und ging in ihr Zimmer.
Die Ohrfeige hatte Tina nichts ausgemacht, dieser Kuss schon. Der tat richtig weh. Der war der eigentliche Schlag ins Gesicht.
Vorsichtig klopfte Sandra an Saalfelds Tür. »Herr Saalfeld?«, fragte sie und wartete.
Als nach einer weiteren Minute immer noch nichts zu hören war, drückte sie sachte die Klinke herunter. Dabei machte sie einen leichten Knicks, um das Tablett gerade zu halten.
Saalfeld lag im Bett und atmete schwer, aber gleichmäßig. Er starrte an die Decke wie jemand, der seine Augen nie wieder schließen würde. Sandra erschrak innerlich, dann aber drehte er seinen Kopf leicht in ihre Richtung und durchdrang sie mit seinem Blick.
Sie erschrak erneut. Gekonnt schloss sie leise hinter sich die Tür und trat mit dem Tablett an sein Bett. »Ich dachte mir, ein heißer Tee kann nicht schaden. Ist Ihnen warm genug? Haben Sie genug Decken?«
Im gesamten Haus war es klamm und unangenehm kalt geworden. Es gab keine Heizung, zumindest keine, die funktionierte, und das vormals noch von der Sonne aufgeheizte Gemäuer hatte bereits all seine Wärme abgegeben. Ein Winter in so einem alten Haus war
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