Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
biss hinein.
Elli stand oben auf der Galerie und dachte an Martin. Plötzlich sah sie ihn vor sich. Den sehnsüchtigen Blick in seinen scheuen Augen, die tiefe Wärme darin, die einen aufsaugte und nie mehr loslassen wollte. Auch das konnte Martin sein. Verletzlich, hochsensibel, liebevoll.
Ohne es zu wollen, drängten sich Elli Erinnerungen an die schönen Stunden mit Martin auf. Sie zitterte.
Die Erinnerungen waren noch so lebendig. An den Abend, als sie mit Martin und ihren Freunden im Golden Twenties gesessen hatte. Er hatte sein schwarzes Architektenhemd getragen, mit den matten Hornknöpfen und dem breiten Siebziger-Jahre-Kragen. Er war blass und abgekämpft, aber sein Ingenieurskopf, die silbergrauen, stoppelkurzen Haare und sein alles durchdringender Blick verliehen ihm eine ganz besondere Aura, wie das lebendige Schwarzweiß-Porträt eines Denkers. Diese Augen, mit einem Blau, reiner als das Meer an der kroatischen Felsküste.
Am Tisch waren sie eine große Runde von fast zehn Leuten, zusammen mit Carlo und Anna. Damals hatten sie sich noch alle prächtig verstanden.
Das Golden Twenties war eines der wenigen italienischen Restaurants, das Carlo gelten ließ. »Jeder italienische Schuhverkäufer kann eine Pasta machen, a paar Tomaten und Gewürze reinwürfeln und dann für a bisserl Show zwanzig Euro verlangen. Zumindest bei uns in München, wo die Italiener zwar immerhin noch Italiener sind, aber für das ›echte Feeling‹ extra ihren Akzent aufsetzen, auch wenn’s schon in der zehnten Generation hier sind: ›Eh Carlo, hate gesmäckte?‹ Den Schock bei der Rechnung kühlen’s dann immer ganz gewitzt mit einem lausigen Grappa aufs Haus ab. Und alle fallen darauf rein.«
Wie leicht es doch war, den vom nassen Wetter versauerten Deutschen mit der richtigen Show ein Abziehbild von Italien auf den Teller zu schummeln.
Das Essen im Golden Twenties allerdings, ja, das sei dann doch jedes Mal wieder was Besonderes, frohlockte Carlo gerne.
Alle hatten sie an jenem Abend gelacht und wild gestikulierend durcheinandergeplappert. Der holzvertäfelte Gastraum, der an die wilden zwanziger Jahre erinnern sollte, wurde dominiert von einem großartigen erotischen Ölgemälde, mit einer fülligen, nackten Frau, zwischen üppigen Speisen drapiert, und einem beinah irren, lüsternen Blick.
Immer wieder hatte Martin zärtlich ihre Hand genommen, ihr liebevoll die Wange gestreichelt und ihr zum Schluss gestanden, dass er so verliebt in sie sei wie am ersten Tag. Selten hatte sie sich so glücklich gefühlt wie in diesem Moment. An diesem Abend war sie angekommen, und alles im Leben hatte endlich einen Sinn erhalten.
Was war nur passiert, wann hatten sie es verloren? War es schleichend vor sich gegangen, oder war es an einem bestimmten Tag eingetreten? Dass er die Kleine gevögelt hatte, war nur eine beiläufige Beleidigung im Vergleich zu dem, was wirklich seit Jahren zwischen ihnen geschehen war.
Elli holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Beherrschung. Dann ging sie in die Küche; ein Glas Wasser war das Mindeste, was sie jetzt brauchte. Besser wäre ein ganzer Eimer oder eine kalte Dusche. Sie wusste, das würde ihr noch unzählige Male passieren. Sie hatte Martin geliebt, wirklich geliebt. Gemeinsam hatten sie unglaubliche Abenteuer erlebt, die brutalsten Schlachten geschlagen und sich unbeschreibliche Träume zugeflüstert. Warum musste sie jetzt an seinen Blick denken, der so unter die Haut gehen konnte?
»Verdammte Hitze«, sagte Lutz, der anscheinend in die Küche wollte. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengestoßen.
»Halb neun und nicht einmal der kleinste Hauch einer kühlen Brise. Kein Wunder, dass hier alle verrückt und kriminell sind.«
»Das ist nun mal Italien und nicht Travemünde. Warum bist du hier, wenn du es so schrecklich findest?«, fragte Elli verwundert.
»Warum ich hier bin? Warum willst du das wissen?« Lutz war in höchster Alarmbereitschaft. »Willst du mich etwa aushorchen?«
Elli sah sich diesen komischen Kauz genauer an. Dann wurde sie todernst. »Mist! Du hast mich erwischt. Okay, ich arbeite für die Regierung.«
Lutz sagte nichts. Vielmehr musterte er Elli argwöhnisch. Zwar hatte er genau das vermutet, aber es dann mit eigenen Ohren zu hören, das hatte noch einmal eine ganz andere Qualität.
Elli hingegen hatte Mühe, ihr Lachen zu verbergen. Endlich hatte sie Martins Augen vergessen. Dafür war sie diesem Lutz dankbar. Sie trat ganz nah an ihn heran und
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