Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
bemühte, er kam nicht mehr an sie heran. Irgendeine Kraft schien sie auseinanderreißen zu wollen, und er war zunehmend machtlos. Selbst wenn sie ihn liebevoll ansah, hatte sie diese Traurigkeit in den Augen, als wollte sie sich für etwas entschuldigen. An ihm lag es nun, sie beide wieder zusammenzubringen. Er musste vorangehen, musste die Orientierung vorgeben, in dem dichten Nebel, der sich über ihre Beziehung gelegt hatte. Er musste der Leuchtturm sein, für Klarheit sorgen. Deshalb würden sie heiraten. Er würde seine starken Arme um sie legen und ihr endlich wieder Halt geben. Er war schließlich der Mann, ihr Mann.
Obwohl es erst Mittag war, zirpten sich die Grillen bereits wieder in Ekstase. Langsam wurde es so heiß, dass man fürchten musste, dass selbst die Vögel jede Sekunde vom Himmel fallen würden.
Das war Carlo nur recht so. Es konnte nicht heiß genug sein.
Da hörte er, wie sich ein Auto die Kiesauffahrt hinaufarbeitete.
Carlo erhob sich mit seinem massigen Körper aus dem gebrechlichen Stuhl. Das musste der Arzt sein.
Der Mann, um die fünfzig, grau meliert mit dem typischen leicht gewellten Haar eines italienischen Lebemanns und Intellektuellen, zog beide Ärmel seines petrolgrünen Cordanzugs zurecht, nahm seine dunkle Hornsonnenbrille ab und fragte freundlich nach Signorina Anna, noch bevor er sich dann in erstaunlich gutem Deutsch als Dottore Elia Scalfa vorstellte.
Seine Stimme hätte leicht die eines Radiosprechers sein können, dachte Elli sofort. Sie war zufällig die Erste, die den Neuankömmling empfing.
Danach erst kam in schnellen Schritten Sandra hinzu und ebenso Carlo. Der bog mit großen Schritten von der anderen Seite, aus dem zweiten Garten, ein.
Hoffentlich bemerkte keiner, dass Elli den Doktor musterte, während er und Sandra sich bekannt machten, dann im Gehen über die liebe Kollegin in Leipzig plauderten und sich zu der Patientin aufmachten, die sich auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt hatte. Seine Gesichtshaut war von der Sonne gegerbt wie die eines Seglers. Einerseits war sein Gang etwas schwer, man spürte die vielen Leiden, Krankheiten und Schicksalsschläge, die er als Arzt schon hatte miterleben müssen, andererseits hatte alles an dem Mann immer noch eine unerschütterliche sportliche Dynamik. Sein durchtrainierter Körper federte alles ab, was an ihm zog.
Natürlich bedankte sich allen voran Carlo, dass der Doktor ihnen so schnell und spontan einen Besuch abstatten konnte. Selbst in Deutschland sei so etwas mehr als ungewöhnlich.
Dottore Scalfa blieb kurz stehen. Beinahe freundschaftlich legte er seine Hand auf Carlos Schulter. »In Deutschland ist vieles ungewöhnlich.« Schmunzelnd ging er weiter.
Der Mann gefiel Elli. Auch wenn dies wirklich das Letzte war, was sie sich momentan eingestehen wollte. Von Männern hatte sie genug, zumindest für eine lange Zeit. Er war was Besonderes, das sah ein Blinder mit Krückstock, und er hatte Elli auch eine Sekunde länger begrüßt als die anderen. Aber vielleicht war so ein junges Betthupferl wie Sandra doch eher sein Fall. Diese Lektion hatte Elli gelernt. Ältere Männer und junge Frauen. Je jünger, desto mehr Lebenselixier für die Herren »Best-Ager«. Aber Elli wollte Sandra nicht unrecht tun. Dazu hatte sie sich in den letzten Stunden viel zu wunderbar verhalten. Vor allem aber wollte sie auch nicht wie eine alte, frustrierte Jungfer denken. Also immer locker bleiben, liebe Elli. Schließlich begann jetzt das Elli-Zeitalter. Oder doch die Single-Einsamkeit?
Routiniert und zugleich mit großem Feingefühl, nahm der schöne italienische Arzt Annas Fuß in seine linke Hand und drückte mit der rechten vorsichtig diverse Stellen ab. Anna war das Ganze immer noch unangenehm, aber sie konnte ihre Erleichterung darüber, in den Händen eines Fachmannes zu sein, nicht verbergen. Neben Anna stand Carlo und hielt ihr liebevoll die Hand. Sein Ärger über sie war längst wieder verflogen.
»Keine Angst! Nur eine, äh, wie sagt man bei Ihnen? Bänderzerrung. Kann schmerzhaft sein, ist aber halb so schlimm. Ein Riss, oh ja, das wäre orribile gewesen. Ehrlich gesagt, Sie haben großes Glück gehabt.«
Auf jeden Fall musste Dr. Scalfa der Patientin einen Verband anlegen, um das Gelenk zu stützen. Ansonsten wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder umknickte und die Bänder endgültig rissen.
Elli hätte ihm stundenlang zuhören können. Diese weiche, tiefe Erzählerstimme, die einen sofort hinwegtrug,
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