Flaschendrehen: Roman (German Edition)
die ich kannte, auch da, aber wenigstens Clemens’ lästige Verehrerinnen ließen wir hinter uns, und im Hotel hatten wir unsere Ruhe, auch wenn wir offiziell natürlich zwei Zimmer buchten.
Das Licht ging abrupt an, der Film war zu Ende. Widerwillig machte ich mich auf den Weg in die Redaktion. Es herrschte wie immer reges Treiben, Telefone, Handys, Musik, Geschrei und Türengeknalle inklusive, eine Geräuschkulisse, die mir an gewöhnlichen Tagen nichts ausmachte.
Michi hatte mich bereits sehnsüchtig erwartet, zum Glück ohne eine alberne Verzierung auf dem Kopf. Ihren Klamotten nach hatte sie Abstand zu ihrer Designerin Anna genommen, zumindest war sie dezent, aber trotzdem gut gekleidet.
»Gut siehst du aus!«, sagte ich, schließlich musste man Michi den Rücken stärken, falls sie trotz ihres Musendaseins Anna in die Wüste geschickt hatte. Michi freute sich sichtlich über das Kompliment, wie vermutet, waren die Kleider von ihr selbst ausgesucht.
Sofort begann Michi aufgeregt, alle Skandale und Skandälchen meiner Party aufzuzählen, ihre kurze verhinderte Stripeinlage eingeschlossen. Zwar konnte sie jetzt darüber kichern, aber vor allem war sie erleichtert, dass Clemens noch nicht da war, als ihr das kleine Missgeschick passiert war. Überhaupt Clemens, ihre Augen leuchteten.
»Hast du gesehen, wie wir uns geküsst haben?«, schwärmte sie verträumt. Wie bitte? Von einem Wir konnte kaum die Rede sein, sie hatte sich an seine Lippen geheftet, und wenn sie kleine Widerhaken am Mund hätte, hinge sie immer noch an ihm. Wie konnte man sich so verblendet die Realität zurechtbiegen? In meinem Kopf fing es sofort wieder an zu pochen. Kein Wunder, wer hört schon gern auf Dauer zu, wie andere Mädels den eigenen Freund als vermeintlichen Single anbaggern und unwissentlich einem von ihm vorschwärmten.
Wenigstens war Michi gut drauf, was hieß, dass ihr Gesundheitszustand heute kein Thema sein würde. Inzwischen wusste ich die Anzeichen zu deuten. Wenn eine Tasse dampfender Kamillentee auf dem Tisch stand und Michi ihre Shirtärmel lang zog, bis die Hände darin verschwanden, und sie mit unbewegtem Gesichtsausdruck dasaß, litt sie entweder an Blähungen oder einem Magengeschwür in fortgeschrittenem Stadium. Das Schlimme war, man konnte nicht mehr unterscheiden, welche Beschwerden real und welche psychosomatisch waren, wobei die psychosomatischen früher oder später auch real wurden. Alle Versuche, Michi klar zu machen, dass ihre Leiden immer dann auftraten, wenn ihr zwanghafter Vater mit unangenehmen Nachrichten anrief oder der Druck im Büro zu groß wurde, wischte sie mit »alles Zufall« vom Tisch und kauerte sich lieber als kleines Häufchen Elend auf den viel zu großen Schreibtischstuhl. Am besten, man tröstete sie ein wenig, denn die Beschwerden durchlitt sie ja wirklich, egal ob eingebildet oder nicht. Was auch gut funktionierte, wie ich neulich herausgefunden hatte: selbst Beschwerden vorzutäuschen. Michis Neugierde und Interesse waren dann sofort geweckt; und einerseits war sie so abgelenkt, andererseits konnte sie mir mit ihrem Fachwissen und Fundus an Tipps weiterhelfen, was ihr sehr gefiel.
Marion kam in unser Büro, frisch wie der junge Morgen. War ich eigentlich die Einzige, die eine durchzechte Nacht nicht mehr wegsteckte? Na ja, Marion war gut fünf Jahre jünger, beruhigte ich mich.
»Kommt ihr zur Redaktionssitzung? Clemens, Feline und die anderen sind schon da.«
Das bedeutete, der Raum war voll und laut. Wenn Clemens als einziger Lichtblick nicht dabei gewesen wäre, hätte ich die Toilette vorgezogen. Da war es wenigstens ruhig, kühl und dunkel.
Der Konferenzsaal war proppenvoll, Marion schleppte zusätzliche Stühle an. Clemens stand als Einziger – strahlend, heiter, schön und so was von nüchtern und gesund! Das war nicht gerecht und bestimmt nicht gut für eine junge Liebe, wenn der deutlich ältere Freund durchfeierte Nächte optisch besser wegsteckte als das schöne Geschlecht. Jetzt war ich mal gespannt, ob es ihm peinlich war, mit der halben Belegschaft Flaschendrehen gespielt zu haben. Er machte Zeichen, dass wir uns setzen und still sein sollten. Von Peinlichkeit oder unangenehmer Situation konnte nicht die Rede sein. Er wirkte gefestigt und souverän wie immer. Diane huschte als Letzte zur Tür herein und sah, Hand aufs Herz und nicht gelogen, noch fertiger als ich aus! Ha, vielleicht bekam man ja wirklich ab einem gewissen Alter das Gesicht, das man verdiente,
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