Flaschendrehen: Roman (German Edition)
überraschte es, alle und wurde sofort in Beschlag genommen.
Weil Clemens dabei war, durfte ich auch Businessclass fliegen, wobei das bei innereuropäischen Flügen eigentlich totaler Schwachsinn war, für die kurze Zeit brauchte niemand mehr Beinfreiheit oder eine warme Mahlzeit, aber angenehm war es schon. Natürlich war Clemens bei den vielen Meilen, die er flog, »Senator« bei der Lufthansa und wurde so zuvorkommend behandelt, dass ich fast schon Angst bekam. Es fehlte nur noch, dass ihm die Stewardess eine Fußmassage anbot. Nach einiger Zeit hatten alle im fancy Filmflieger ihr Handgepäck verstaut, sich neben den Nachbarn gezwängt, angeschnallt und warteten auf den Start.
Nach einer Weile beruhigte die Chefstewardess die immer ungeduldiger werdenden Passagiere.
»Meine Damen und Herren, der Abflug verzögert sich um wenige Minuten. Wir warten noch auf einen Passagier, der sich beim Check-in befindet. Wir bedauern die Verzögerung.«
Verspätete Passagiere waren das Schlimmste, mir war das auch schon einmal passiert. Man wurde kollektiv gehasst, wenn man denn dann endlich seinen Sitzplatz einnahm. Zu allem Übel hatte ich damals einen Platz sehr weit hinten im Flieger gehabt und musste an den entnervt dreinschauenden und kopfschüttelnden Passagieren vorbei. Seither war ich immer, wirklich immer, eine der Ersten am Flughafen, um mir diese Peinlichkeit ein zweites Mal zu ersparen.
Nach einer Ewigkeit kam der verspätete Passagier. Wie es der Zufall wollte, war es ausgerechnet Ilona Richter! Während ich mich damals schamgebeugt und mich entschuldigend durch den Mittelgang gequetscht hatte, konnte man Ilona Richter nicht den leisesten Anschein von Bedauern ansehen. Mit dem Selbstverständnis einer Dampfwalze stolzierte sie herein, scherzte mit dem Steward, gab ihm ihre Jacke in die Hand und ließ sich vernehmlich in ihren Sitz in der ersten Reihe fallen, sicher nicht ohne dem Typen neben ihr eines ihrer »Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will, und du gehörst dazu«-Lächeln zu schenken.
Keine Ahnung, aber irgendwie schien man mit solch einer dreisten Haltung besser durchs Leben zu kommen, ganz nach dem Motto »Was kümmert mich der Rest der Welt«. Leider war mir diese Haltung nicht vertraut genug, um sie konsequent durchzuhalten, trotz der Frauenpower-Unabhängigkeitsschule, die ich unter Führung meiner Mutter durchlaufen hatte.
Clemens, der in ein Buch vertieft war – hatte ich übrigens schon erwähnt, dass ich Männer, die lesen, unheimlich sexy finde –, hatte Ilona Richters Auftritt verpasst. Unauffällig stieß ich ihn in die Seite und flüsterte: »Rate mal, auf wen wir gerade warten mussten? Ilona Richter!«
Clemens sah auf und hatte nach wenigen suchenden Blicken die toupierte Mähne in der ersten Reihe erkannt.
»Typisch, wenn sie pünktlich wäre, würde sie ja nur die halbe Aufmerksamkeit ergattern. Ob manche Väter wissen, was sie ihren Töchtern und dem Rest der Welt antun, wenn sie sich nicht genug um sie kümmern?«
Was sollte das denn heißen?
Clemens hatte durch die kurze Zusammenarbeit vor einigen Jahren mit ihr einige Hintergrundinformationen, die sehr interessant waren, wie zum Beispiel die Vernachlässigung durch den Vater und eine Mutter, die mit ihren eigenen Problemen und vor allem mit ihrer Scheidung beschäftigt war. Wahrscheinlich war Ilona Richters Handeln und Streben nichts anderes als ein Schrei nach Aufmerksamkeit und Liebe.
Eine Gesprächstherapie hätte es auch getan.
Wenigstens war es unterhaltsam, der Ilona-Richter-Show zuzusehen. Wie sie die Stewardessen wie Zofen behandelte, immer wieder aufstand, um etwas aus dem Handgepäck zu holen, zur Toilette ging, immer im Augenwinkel bedacht, dass alle ihr zusahen. Clemens, der die Showeinlagen schon kannte, las weiter, ich aber musste immer wieder fasziniert hinblicken. Wie konnte jemand einen solchen Wind um die eigene Person veranstalten?
Natürlich gehörte sie zu der Sorte Passagiere, die schon im Landeflug mit Handgepäck an der Kabinentür rütteln, als ob es um Leben und Tod ginge. Glücklicherweise war sie als Erste aus dem Flieger, sodass wir ihr aus dem Weg gehen konnten.
Unglaublich, aber wahr, beim Weiterflug wiederholte sich das Theater noch einmal. Ilona wieder zu spät, wieder in der ersten Reihe, kommandierte die Crew nach ihren Launen hin und her und stand als Erste bereits am Ausgang.
Gerade wollte ich frohlocken, dass wir um eine Begegnung mit ihr herumgekommen waren, da blieb sie
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