Flaschendrehen: Roman (German Edition)
das Café. Ich wollte mich schnellstmöglich zu Hause in die Badewanne legen und danach mal wieder einen gemütlichen Abend allein vor dem Fernseher verbringen oder endlich eines der beiden Bücher, die Ben mir geliehen hatte, beginnen. Clemens war gemeinsam mit Feline und den anderen Mitgliedern der Geschäftsleitung bei einem wichtigen Anzeigenkunden, dessen oberste Bosse sie im Anschluss an die Verhandlungen noch auf den Nürnberger Christkindlesmarkt einluden, sodass Clemens erst Sonntagabend wieder zurück war. Wenn es im Kampf gegen die Zeitgeist half und so das dringend benötigte Geld hereinkam, sollte mir alles recht sein. Clemens war zwar sichtlich genervt, seine Wochenenden regelmäßig opfern zu müssen, aber der Druck von der Verlagsleitung war so groß, dass es nicht an der Zeit war, sich für Überstundenabbau oder Gleitzeiten einzusetzen.
»Wo kommt denn das Zeug fürs Bleigießen hin?«, rief ich Leila zu, die in der Küche vor sich hin werkelte. Kaum zu glauben, dass schon wieder ein Jahr um war – und was für eins! Im Gegensatz zu meinen sonstigen Sylvesterabenden hatte ich noch keinen Weltschmerz oder gar Zukunftsangst, im Gegenteil, ich blickte diesem Abend, diesem Jahr, ja diesem Leben so positiv entgegen, dass es nahezu beängstigend war. Kein Wunder, wenn man Clemens an seiner Seite wusste, wurde man unverwundbar. Ich zählte die Stunden, bis er endlich landen würde, ich hatte mich so nach ihm gesehnt, dass ich meinte, körperliche Entzugserscheinungen wahrnehmen zu können. Die Woche räumlicher Trennung war mir unendlich lange vorgekommen trotz sehr schöner und gemütlicher Feiertage zu Hause, wo es zwei Highlights gegeben hatte. Eins war natürlich das obligatorische Weihnachtsessen bei meinen Großeltern gewesen, die alljährliche Zerreißprobe. Mein Vater weigerte sich normalerweise, die dekadente Prunkvilla, in der seiner Meinung nach ganze bedrohte Volksstämme bequem leben könnten, zu besuchen. Dreimal im Jahr machte er eine Ausnahme, am Geburtstag seiner Schwiegereltern und eben an Weihnachten, aber natürlich nur den Kindern zuliebe.
»Eva, wollen wir was essen, bevor wir zu deinen Eltern gehen?«, hatte mein Vater an Heiligabend gefragt, der behauptete, vom vergifteten Essen meiner Großeltern noch tagelang später unter Darmkoliken zu leiden. Vergiftet hieß in diesem Fall nicht ökologisch angebaut. Aus reiner Bosheit dachte sich mein Vater jedes Jahr neue Lebensmittelallergien aus, die es meinen Großeltern erschweren sollten, ein luxuriöses Weihnachtsessen aufzutischen. Leider hatte mein Vater nicht mit dem Erfindungsreichtum ihres Kochs gerechnet, der es inzwischen geradezu als Herausforderung ansah, trotz der Sperenzchen, die sich mein Vater ausdachte, ein Menü zuzubereiten, das Sterne-Niveau besaß. Meine Mutter hatte meinem Vater einen Teller mit Hirseauflauf gegeben, damit er etwas Vernünftiges als Grundlage im Magen hatte, ihr schmeckte es immer ausgezeichnet bei meinen Großeltern, auch wenn sie es nie zugeben würde.
Rudi hatte seine Jacke geholt und meinen Vater gedrängt, schneller zu essen, damit wir endlich loskonnten, nicht etwa, weil er so gern zu meinen Großeltern wollte, nein, je eher wir dort wieder aufbrachen, umso früher konnte er in die Stadt und alte Flammen abchecken, zumindest die noch nicht verheiratet waren oder runde Bäuche vor sich herschoben.
Wir waren zum Auto gegangen. Mein Vater war vor der Garage stehen geblieben und hatte sein Fahrrad herausgeholt.
»Ihr könnt mit dem Auto fahren, ich nehme das Fahrrad.« Er wollte ein Zeichen setzen wie jedes Jahr, ganz nach dem Motto »Mich habt ihr nicht klein und angepasst bekommen«. Leider war es dieses Jahr so unglaublich kalt gewesen, das Thermometer zeigte minus einundzwanzig Grad, dass sein Statement ihn locker eine Lungenentzündung kosten konnte; da vergaß selbst meine Mutter die Gesinnung.
»Frank, sei nicht albern, es ist spiegelglatt und so kalt, dass auch solch eine Rossnatur nicht unbeschadet Fahrrad fahren kann.«
Gerade sie müsste meinen Vater besser kennen.
»Dann lauf ich eben!«, hatte er trotzig erwidert, wenn er etwas nicht leiden konnte, war es gemahnt zu werden oder Widerstand zu spüren. Ich vermutete, dass er, auch in einer anderen Zeit geboren, also ohne Achtundsechziger oder politische Aufklärung, ein Rebell und Sturkopf geworden wäre. Diese Gesinnung lag seinem Naturell, und außerdem war es schicker, aus Überzeugung trotzig zu sein, als aus einer Laune
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