Flaschendrehen: Roman (German Edition)
keifte meine Mutter außer sich. Dass sich ihre Tochter mit dreiunddreißig Jahren auch ohne finanzielle Hilfe der Großeltern ein Auto zugelegt hatte, kam meiner Mutter natürlich nicht in den Sinn. Sie dachte, Rudi und ich seien immer noch von ihnen und den Großeltern abhängig. Dabei waren wir beide weit gehend abgenabelt, doch diese Tatsache hatte sich noch nicht bis zu unseren Eltern herumgesprochen. Mit diesen schrillen Tönen im Ohr konnte ich mich jedenfalls nicht mehr auf den Verkehr konzentrieren.
»Mama, ich hab dich auf Lautsprecher gestellt und beide Hände am Lenkrad. Reg dich ab. Ich freu mich, wenn ihr kommt, und natürlich könnt ihr bei mir wohnen!«, rief ich, während Sarah ein Lachen unterdrückte.
Meine Mutter klang sogleich beruhigt. »Na schön, aber gut finde ich das immer noch nicht. Versprich mir, nicht mehr im Auto mit dem Handy zu telefonieren!«
»Klar, verspreche ich dir!«
Sie konnte ja nicht sehen, dass ich gerade eine Hand vom Lenkrad genommen hatte, um mit den Fingern ein »Gilt nicht«-Kreuz zu formen.
Kaum hatte ich aufgelegt, lachte Sarah lauthals los.
»Aura bestimmen? Da will ich mit!«
Sarah liebte die kruden Ideen meiner Eltern. Für sie war ein Ausflug mit ihnen wie ein kostenloser Zirkusbesuch, Getränke inklusive. Klar, wenn die eigenen Eltern die samstägliche Ziehung der Lottozahlen als Höhepunkt der Woche feierten, war nicht viel an Unterhaltung geboten. Da waren meine Eltern mit ihren Geistrückführungen, Demos und Tantrastunden um einiges unterhaltsamer – zumindest für Außenstehende.
Nach einer halben Stunde hatte ich endlich einen Parkplatz und verfluchte die zwar nett anzusehenden Altbauten, die aber alle nicht über Tiefgaragenplätze verfügten.
Sarah umarmte mich und stieg in ihr Auto um.
»Gute Nacht, Gretchen. Schlaf gut. Und danke, dass du mich heute mitgenommen hast. Weißt du, was echt komisch ist? Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass Clemens mich immer etwas länger angeschaut hat als die anderen Frauen um uns herum!«
Das fing ja gut an!
»Wie war der Haifilm?«, fragte Michi interessiert, als ich morgens im Büro ankam. Michi war meist lange vor allen anderen da.
»Super! Musst du dir unbedingt ansehen. Meine Freundin Sarah und Clemens fanden ihn auch toll.«
»Ach, Clemens war auch da?«, fragte Michi erstaunt.
Ich hatte das Gefühl, eine leise Enttäuschung mitschwingen zu hören.
»Ja, war ja schließlich die Europapremiere!«, spielte ich es runter.
Michi machte den Versuch eines Lächelns.
»Stimmt, das gehört ja zum Job sozusagen. Mich hat er ja auch letzte Woche zur Autorenlesung von Friedrich Mitsch begleitet.«
Sieh an! Jetzt war ich an der Reihe, enttäuscht zu sein. Clemens ging also, wie es schien, mit uns allen auf wichtige Abendveranstaltungen.
Jetzt erst fiel mir auf, dass Michi heute anders ausschaute. Ihre Klamotten waren sonst eher einfach und unauffällig, oft etwas zu groß, was ihre zierliche Gestalt noch zerbrechlicher wirken ließ. Doch heute trug Michi Farbe! Und zwar figurbetont mit Ausschnitt! Und was für einem Ausschnitt! Damit würde ich eventuell abends ausgehen, sehr spät abends, aber auch nur, wenn ich wüsste, dass ich den ganzen Abend stehen könnte und mich nicht einmal bewegen müsste, aber bestimmt würde ich so etwas Gewagtes nicht an einem stinknormalen Freitagmorgen im Büro tragen.
Michi hatte ihr neues Motto »Farbe« auch gleich aufs Gesicht übertragen und ein – sagen wir mal – recht eigenwilliges Make-up aufgetragen. Dass Michi sich sonst nie schminkte, sah man den ungelenken Kajallinien, dem bröckeligen, viel zu grellen Lippenstift und dem ungleichmäßig aufgetragenen Rouge an. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das sich am Schminktopf ihrer Mama vergriffen hatte, oder jemand, der mit der Rocky Horror Picture Show durchbrennen wollte.
Wie brachte ich ihr das nur taktvoll bei, ohne sie allzu sehr zu verunsichern? Michi war sowieso schon ein wandelndes Bündel an Komplexen, Zweifeln und Schüchternheit. Niemand konnte so gekonnt mit den Schultern zusammenzucken wie sie. Ein falsches Wort, und eine Welt brach zusammen. Aber bevor Rittmeister Diane sie so zu Gesicht bekam und einen niederschmetternden, gehässigen Kommentar losließ, musste ich etwas unternehmen.
»Du hast ja ’nen neuen Look, Michi!«
Unsicher zuckte sie zusammen und stammelte: »Ich dachte, ich könnte vielleicht mal was anderes ausprobieren?«
Auweia, ich musste sehr vorsichtig vorgehen, Michi wurde
Weitere Kostenlose Bücher