Flashback
Ich hab Lennie und Dorrie gesagt, sie sollen die Außenkameras heute Nachmittag ganz besonders scharf im Auge behalten, aber bis jetzt ist Val noch nicht wieder aufgetaucht.«
»Okay. Danke.« Nick machte kehrt zur Treppe und versuchte, die Blutspur zu ignorieren. Auch er hatte schon viel Schlimmeres gesehen.
Wie aus dem Nichts brandete plötzlich die Erinnerung an den jüngsten Angreifer in den Huntington Botanical Gardens heran, der am vergangenen Montag verletzt um sein Leben gebettelt hatte. Der Kerl war mindestens drei oder vier Jahre älter als Val gewesen und hatte mit seinen Kumpanen die ganze Nacht auf unbewaffnete Zivilisten geschossen, als wären sie Freiwild. Er hatte einfach Pech gehabt, dass Nick nicht unbewaffnet war. Aber wartete jetzt auch auf Val ein gnadenloser Typ, der ihm die Mündung seiner Pistole an die Stirn setzte und sich die Hand vors Gesicht hielt, um nicht vollgespritzt zu werden?
Lass den Scheiß, du Hohlkopf. Das bringt nichts.
»Was wird mit dem Kletterseil, Nick?«, rief ihm Gunny G. nach.
»Das hol ich später«, log Nick.
In seiner Wabe herrschte heilloses Durcheinander. Überall lagen Kleider herum, und die Schubladen waren einfach ausgeleert und auf den Boden geworfen worden. Dazu kamen Papier- und Plastikverpackungen von Spritzen und Medikamenten, die Dr. Tak bei der Erstversorgung von Leonard hinterlassen hatte.
Nick kümmerte sich nicht um das Chaos. Er war völlig auf die wahllos verstreuten farbigen Mappen fixiert.
Hat Val den Geschworenenbericht gelesen?
Natürlich hatte er ihn gelesen.
Wütend wischte Nick die Dokumente mit dem Unterarm vom Schreibtisch. Kann Val glauben, dass ich seine Mutter umgebracht habe?
Natürlich konnte er es glauben. Schließlich hatte Nick auch seinen Sohn zu dessen Großvater nach Los Angleles abgeschoben und ihn kein einziges Mal besucht … Schließlich hatte er nie genug Geld übrig gehabt, um Val zu Besuch nach Denver zu holen … Schließlich hatte er ihn nur ein paarmal im Jahr angerufen und zuletzt sogar seinen sechzehnten Geburtstag vergessen. So ein Vater brachte es auch fertig, seine untreue Frau aus dem Weg räumen zu lassen.
Die Ellbogen auf die Knie gestützt saß Nick auf dem Stuhl. Er presste die Handflächen an die schwitzenden Wangen und konzentrierte sich darauf, Luft zu bekommen.
Ohne jede Spur von Melodramatik musste Nick einsehen, dass er sein Versagen als Vater bei Val nicht wiedergutmachen konnte, egal wie viel Zeit ihnen in ihrem Leben noch blieb.
Bei mir sind es mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger als acht Stunden.
Auch diese Gewissheit nahm Nick als schlichte Tatsache zur Kenntnis. Wenn er nicht zusammen mit Val und Leonard fliehen konnte, um den schönen Traum vor dem heutigen Aufwachen mit Leben zu erfüllen, dann würde es mit dem Expolizisten Nick Bottom nach seinem Treffen mit Mr. Nakamura kein gutes Ende nehmen. Fast glaubte er schon den Verwesungsgestank einzuatmen …
»Scheiße.« Nick knallte die Wabentür zu, zog sich nackt aus und schleuderte alle Klamotten, die er getragen hatte, in die Ecke. Dann ging er unter die Dusche und scheuerte beim Waschen so fest über die Haut, dass er fast blutete. Trotzdem nahm er immer noch den Todesgestank der Mülldeponie 9 an sich wahr.
Der erinnerte Geruch vom NCAR war zwar subtiler – ein leichter Hauch von Chlor und anderen Chemikalien wie bei einem gepflegten Swimmingpool –, aber mindestens genauso furchtbar.
Hastig und achtlos zog sich Nick an – frische Unterwäsche und Socken, ein blau kariertes, vom häufigen Waschen geradezu unanständig weiches Flanellhemd und eine saubere Kakihose, die nicht mehr so eng saß wie noch vor zwei Wochen. Auf der linken Seite befestigte er das Halfter mit der Glock am Gürtel, zuletzt schnallte er sich noch die winzige Taschenpistole um das rechte Fußgelenk.
Dann machte er sich auf die Suche nach Daras Telefon. Es lag weder auf dem Schreibtisch noch auf dem Bett.
Jemand hat es gestohlen. Die Nachbarn oder ein anderer Bewohner hat es an sich genommen, als Gunny G. und Dr. Tak hin und her gelaufen sind und nicht abgesperrt haben. Oder vielleicht ist Val zurückgekommen, um es zu holen …
Nick zwang sich zur Ruhe. Wenn er sich weiter so am Rand der Hysterie bewegte, musste er noch eine von Dr. Taks Beruhigungspillen nehmen.
Auf allen vieren kramte Nick in den verstreuten Sachen herum. Schließlich entdeckte er das Handy an der Holzimitatwand knapp
über der Fußbodenleiste. Anscheinend hatte es jemand
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