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Flashback

Titel: Flashback Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Wirklichkeit nicht mehr von der anderen unterscheiden konnte.
    Die psychotischen Probleme waren Nick völlig egal – er wusste, für welche Realität er sich entschieden hatte. Dennoch nahm er die vierstündigen Unterbrechungen in Kauf, um ein wenig herumzulaufen, damit die Muskeln nicht schrumpften, um auf die Toilette zu gehen und ein paar Energieriegel zu essen. Einmal alle ein, zwei Wochen konnte er die Gruppendusche nebenan benutzen. Vielleicht.
    Sechshundert Stunden mit Dara waren nicht genug – es war nicht einmal ein ganzer Monat –, aber immerhin war es ein Anfang.
    Als er sich auf der Pritsche eingerichtet hatte, die Schläuche so locker angeordnet, dass er im Notfall ungehindert nach seiner Pistole greifen konnte, hob Nick die erste Zwanzig-Stunden-Ampulle, stellte sich den Gedächtnisausgangspunkt vor, brach den Verschluss auf und atmete tief ein.

3.00
ECHO PARK, LOS ANGELES
    SAMSTAG, 11. SEPTEMBER
     
     
    Der emeritierte Philologieprofessor George Leonard Fox betrat mit vorsichtigen Schritten den Park, um nicht zu stolpern, zu stürzen oder sich seine zunehmend morschen Knochen zu brechen. Er musste lächeln. So weit ist es mit mir gekommen. Darum humpeln alte Leute. Um ihre morschen Knochen zu schützen. Und da bin ich nun mit Gottes Gnade oder Fluch.
    Er merkte, dass er in Selbstmitleid abglitt, und verbannte die kindische Anwandlung zugunsten vermehrter Wachsamkeit, als er sich auf den geborstenen Pflastersteinen langsam in den Park vorarbeitete – immer noch halbwegs normal, ohne zu humpeln. Trotz seiner vierundsiebzig Jahre benutzte George Leonard Fox noch keinen Gehstock, und er hatte bestimmt nicht vor, sich in nächster Zeit durch einen dummen Sturz dazu zwingen zu lassen. Unter seinen Tritten knirschten zerbrochene Flashbackampullen, doch Leonard achtete nicht auf das Geräusch.
    Es war früh, erst kurz nach sieben, und die Luft noch relativ kühl. Der Himmel war strahlend blau, und die wenigen Tische und Bänke waren feucht vom Tau. In den Nächten bekämpften sich hier zahllose Banden mit Messern und Schusswaffen. Wozu? Um einige Stunden lang den Park zu besitzen? Aus Statusgründen? Oder einfach nur zum Spaß? Als jemand, der fast sein ganzes Leben lang um ein Verständnis der Dinge gerungen hatte, musste Leonard einsehen, dass er immer weniger verstand, je näher sein Tod heranrückte.

    Aber er wusste, dass der Park an Samstag- und Sonntagvormittagen alten Männern wie ihm gehörte.
    Fox hob den Blick vom tückischen Gehsteig und sah, dass sein Freund Emilio Gabriel Fernández y Figueroa bereits dabei war, auf ihrem Lieblingstisch die mitgebrachten Schachfiguren aufzustellen.
    »Buenos días, mi amigo.« Leonard näherte sich dem Tisch.
    »Guten Morgen, Leonard.« Emilio begrüßte ihn mit einem Lächeln.
    Die beiden sprachen an den Samstagen abwechselnd Spanisch und Englisch, und Leonard hatte vergessen, dass es letzte Woche Spanisch gewesen war. Wie hatte er das vergessen können? Emilio hatte ihm aushelfen müssen, weil ihm der Begriff für »Verarmung« nicht eingefallen war – empobrecimiento. Hatte er nicht mehr nur mit Gleichgewichtsproblemen und der Furcht um seine morschen Knochen zu kämpfen, sondern auch mit Alzheimer?
    Lächelnd tippte Leonard auf Emilios geschlossene linke Faust. Eine schwarze Figur. Emilio bekam wieder mal Weiß. Ungefähr drei von vier Malen gewann er die Wahl und entschied sich immer für Weiß und für den ersten Zug. Emilio saß auf der Betonbank – die weißen Figuren waren schon auf seiner Seite –, und Leonard ließ sich vorsichtig gegenüber nieder. Bei ihren freundschaftlichen Partien benutzten sie keine Schachuhr.
    Emilio eröffnete mit seinem unvermeidlichen konservativen Bauernzug. Leonard antwortete mit dem gleichen Bauernzug wie immer. Damit befand sich das Spiel in seinem vorhersehbaren Frühstadium, und sie konnten sich nebenher entspannt unterhalten.
    »Wie geht es mit deinem Roman voran, Leonard?« Emilio zündete sich eine Zigarette an. Emilio Gabriel Fernández y Figueroa – er behauptete, dass sein Großvater den vollen Familiennamen von einer Figur aus einem alten John-Wayne-Film gestohlen hatte –
rauchte eine Schachtel Zigaretten am Tag. Emilio war 1948 geboren, volle zehn Jahre vor Leonard, und näherte sich ohne Angst vor morschen Knochen, Lungenkrebs oder anderen Gebrechen seinem vierundachtzigsten Geburtstag.
    Nach eigener Einschätzung hatte Emilio in seinem Leben meistens Glück gehabt. Nach seiner Ankunft als illegaler

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